Unia-Chefin Vania Alleva blickt kämpferisch auf das Frauenstreikjahr

«Es geht rückwärts statt vorwärts – und das geht uns alle an»

Anne-Sophie Zbinden

Der Druck am Arbeitsplatz. Der Stress, Familie und Job unter einen Hut zu bringen. Und das erst noch zu tiefen Löhnen: Das erleben viele Frauen in der Schweiz. Unia-Präsidentin Vania Alleva sagt im grossen work-Jahresauftakt-Interview, was die Unia für sie fordert und warum Gleichstellung nicht nur die Frauen etwas angeht.

Unia-Präsidentin Vania Alleva: «Die Bürgerlichen wollen bei den Pensionskassenrenten eine Revision auf dem Buckel der Menschen mit tiefen Einkommen. Also insbesondere auf dem Buckel der Frauen.» (Foto: Yoshiko Kusano)

work: Vania Alleva, worauf freuen Sie sich besonders im Jahr 2023?
Vania Alleva: Auf die Zusammenarbeit mit ganz vielen aktiven Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern. Es wird sicher ein engagiertes Jahr! Ganz besonders mit der Mobilisierung für den Frauenstreik.

Nur vier Jahre nach dem letzten Frauenstreik steigt 2023 der nächste. Müssen die Frauen bald jedes Jahr auf die Strasse, damit
es endlich vorwärtsgeht?
Wir müssen so lange dranbleiben, bis die Gleichstellung erreicht ist. Der Druck der Strasse und in den Betrieben ist enorm wichtig. Im Moment geht es rückwärts statt vorwärts. Deshalb lautet die Kampfansage für den Frauenstreik 2023: Respekt, mehr Lohn, mehr Zeit.

«Wir haben eine Lösung parat, wie wir sofort 8,3 Prozent höhere Renten erreichen könnten: mit der 13. AHV-Rente.»

Dieselben Forderungen wie bereits beim letzten historischen Frauenstreik 2019.
Ja, weil es rückwärts- statt vorwärtsgeht bei den Löhnen, bei den Renten und bei der Verteilung der Care-­Arbeit. Über ein Erwerbsleben gerechnet, ist das Einkommen der Frauen noch immer 43,2 Prozent tiefer als jenes der Männer. Die Lohnschere geht seit 2016 wieder auf, und die Löhne in den Tieflohnbranchen, in denen mehrheitlich Frauen arbeiten, sind real gesunken. Und bezüglich Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit haben wir während der Coronapandemie klar gesehen, dass vor allem Frauen das Home-Schooling und die Kinderbetreuung übernommen haben. In Franken umgerechnet, beträgt der Wert der un­bezahlten und hauptsächlich von Frauen geleisteten Arbeit 315 Milliarden Franken. Bei der Frauenstreik­bewegung geht’s um eine gerechtere und sozialere Gesellschaft. Das ist ein urgewerkschaftliches Anliegen und geht uns alle etwas an.

Feministische Organisationen haben bereits begonnen, den
14. Juni zu planen. Wie bereitet sich die Unia auf den Frauen­streik vor?
Wir unterstützen die feministischen Bewegungen. Als Gewerkschaft wollen wir uns vor allem auf Betriebe konzentrieren, in denen viele Frauen arbeiten. In Branchen, die während Corona als «system­relevant» beklatscht wurden, wo bei Löhnen und Arbeitsbedingungen jedoch nichts verbessert wurde. Deshalb unterstützen wir Frauen im Detailhandel, in der Pflege oder in der Uhrenindustrie. Wir werden allen Frauen zur Seite stehen, die bereit sind, in ihren Betrieben die Arbeit niederzulegen.

Im Detailhandel arbeiten mehrheitlich Frauen. Viele von ihnen haben jetzt weniger im Portemonnaie trotz gutem Geschäftsgang.
Das ist enttäuschend. Denn gleichzeitig erhöhen die grossen Detailhändler die Preise und suchen händeringend nach Fachkräften! Daher ist es nicht verständlich, dass sie nicht den vollen Teuerungsausgleich bezahlen. Enttäuschend ist auch die Chemiebranche, ich denke da an Roche, die nur individuelle Lohnerhöhungen beschlossen hat.

In anderen Branchen konnten die Gewerkschaften auch Erfolge erzielen?
Zum Beispiel im Gastgewerbe oder in der Uhrenindustrie gibt es den vollen Teuerungsausgleich. Noch sind nicht alle Lohnverhandlungen beendet, aber insgesamt werden wir eine Lohnerhöhung von 2,5 Prozent haben. Das ist nicht schlecht, bleibt aber unge­nügend. Für viele Arbeitnehmende werden die Teuerung und die explodierenden Krankenkassenprämien einschneidend sein.

Es braucht jetzt im Minimum 4500 Franken im Monat für Ungelernte und 5000 Franken im Monat für Arbeitnehmende mit Lehrabschluss. Und wichtig ist auch, dass in alle GAV der automatische Teuerungsausgleich aufgenommen wird.

Wichtige Weichen in diese Richtung haben wir bereits im vergangenen Frühling gestellt, als wir Sofortmassnahmen zum Ausgleich der Teuerung gefordert haben. Wir hatten vorher über zehn Jahre kaum Teuerung, und viele Arbeitgeber waren daher nicht mehr bereit, ernsthaft über Lohnerhöhungen zu verhandeln. Dies wirkt sich bis heute in jenen Branchen aus, in denen nicht einmal die Teuerung ausgeglichen wurde. Daher wird die Erhöhung der Mindestlöhne auch 2023 eine zentrale Forderung bleiben.

Tiefe Löhne sind einschneidend bis ins Rentenalter. Frauen erhalten im Schnitt noch immer einen Drittel weniger Rente als Männer und müssen jetzt auch noch länger arbeiten. Wie geht es weiter nach dem Ja zu AHV 21?
Es ist sehr bedau­erlich, dass wir die AHV-21-Abstimmung am 25. September so knapp verloren haben. Besonders für die betroffenen Frauen, die weniger Lohn haben, weniger Rente und jetzt auch noch ein Jahr länger arbeiten müssen. Dafür haben vor allem Menschen mit hohen Einkommen und mehrheitlich Männer gesorgt. Manche Befürworterinnen und Befürworter der Vorlage gaben zwar zu, dass es eine Diskriminierung gibt, aber AHV 21 sei nicht der Moment, diese zu beseitigen. Das ist grotesk!

Der wahre Skandal liegt aber bei den bürgerlichen Politikerinnen und Politikern, die vor der Abstimmung gesagt haben, dass die Rentendiskriminierung der Frauen bei der Revision der zweiten Säule korrigiert werden solle. Ihre aktuellen Vorstösse im Parlament zeigen jetzt aber deutlich, dass das nichts als leere Versprechen waren. Sie wollen eine Revision auf dem Buckel der Menschen mit tiefen Einkommen, also insbesondere auf dem Buckel der Frauen. Wir werden sehr genau hinschauen, wie die Diskussion weitergeht. Wenn das Parlament die Vorlage nicht korrigiert, werden wir das Referendum ergreifen. Zudem haben wir eine Lösung parat, wie wir sofort 8,3 Prozent Rentenerhöhung erreichen könnten: mit der 13. AHV-Rente.

Frauen haben auch deshalb tiefere Renten, weil sie häufig Teilzeit arbeiten, um Kinder oder andere Angehörige zu betreuen …
… diese erzwungene Teilzeit der Frauen hat zwei Ursachen. Einerseits die mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Andererseits gibt es aber auch Branchen, in denen die Frauen Teilzeit arbeiten, weil der Druck und der Stress zu hoch sind und sie krank macht. Zum Beispiel in der Pflege reduzieren viele ihr Pensum auf eigene Kosten.

Gerade in der Pflege ist die Situa­tion ja dramatisch!
Monatlich verlassen 300 Pflegende ­ihren Beruf, und trotzdem lässt die Umsetzung der Pflegeinitiative auf sich warten. Es braucht dringend eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen, und die Arbeitszeitreduktion ist ein wichtiger Teil davon. Diese würde auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf verbessern. Österreich hat für Pflegeberufe und soziale Berufe bereits eine Arbeitszeitreduktion eingeführt.

«Wir stehen allen Frauen zur Seite, die streiken wollen, ob im Detailhandel, in der Pflege oder in der Industrie.»

Und in der Schweiz?
Das Spital Wetzikon hat es vorgemacht: Pflegende auf Stationen mit Schichtarbeit haben dort neu eine 38-Stunden-Woche bei gleichbleibendem Lohn. Dieses Beispiel muss Schule machen. Bei den GAV-Verhandlungen der Uhrenindustrie fordern wir eine 36-Stunden-Woche bei gleichem Lohn, ohne weitere Arbeitsverdichtung und ohne Personalabbau.

Die Arbeitszeitreduktion wird bei allen Verhandlungen von Gesamtarbeitsverträgen zur zentralen Frage. Die Arbeitszeitreduktion ist auch bezahlbar. Zwischen 2015 und 2020 stieg ­­die Produktivität um fast 8 Prozent, die Reallöhne hingegen nur um ungefähr 2,5 Prozent. Da hat es genügend Raum für eine Rückverteilung über mehr Freizeit.

Die Vorstösse der rechten ­Wirtschaftsfreundinnen und -freunde gehen jedoch in eine ganz andere Richtung.
Wir sind mit zahlreichen haarsträubenden parlamentarischen Vorstössen zur Deregulierung der Arbeitszeit konfrontiert. Das hat sich auch deutlich bei den Verhandlungen über den neuen Landesmantelvertrag im Bau gezeigt: Die Baumeister wollten die Wochenarbeitszeit auf 58 Stunden erhöhen. Zum Glück konnten wir das verhindern. Es ist aber wichtig, dass wir nicht nur abblocken, sondern auch in die Offensive gehen.

Welche Offensiven plant denn die Unia für 2023?
Wir wollen mit dem Frauenstreik die Gleichstellung und die Arbeitszeit­reduktion voranbringen. Im Rahmen der GAV-Verhandlungen im Gewer­­be, in der Uhrenindustrie und in der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie stehen auch höhere Mindestlöhne im Fokus. Und mit der Initiative für eine 13. AHV-Rente wollen wir einen Schritt in Richtung existenzsichernde Renten machen.


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