Vor zehn Jahren brachten Autowäscher und Fast-Food-Arbeitende in den USA unverhofft eine Mindestlohn-Bewegung ins Rollen:

«Du kannst dein Leben ändern»

Ralph Hug

Die Kampagnen für gesetzliche Mindest­löhne sind eine gewerkschaftliche Erfolgsstory. Derzeit feiern sie Jubiläum, sowohl in den USA als auch in der Schweiz.

«FIGHT FOR 15»: Plötzlich standen 60000 Streikende auf der Strasse und forderten einen Mindestlohn von 15 Dollar die Stunde. (Foto: Getty)

Ende 2012 hatte Angel Rebelledo (55) genug. Der Autowäscher wollte nicht länger 90 Stunden in der Woche für einen miesen Stundenlohn von nur 6 Dollar chrampfen. Und sich dabei als Immigrant aus Mexiko noch alle möglichen Beleidigungen anhören müssen. Da viele andere «Car Washers» in New York genau gleich dachten wie er, wurde das Undenkbare möglich: Streik! Menschen aus der Detailhandelsgewerkschaft zeigten, wie man das macht. Auch Fachleute aus der Gemeinwesenarbeit («community organizers») unterstützten sie dabei.

Die neuen Basisgewerkschaften sind laut, urban und migrantisch.

FRISCHE BEWEGUNG

Zur selben Zeit brodelte es auch in New Yorks Fast-Food-Filialen. Protest lag in der Luft. Und mittendrin die grosse Dienstleistungsgewerkschaft SIEU. Wie die Autowäscher legten auch 200 Serviceleute aus Fast-Food-Re­staurants die Arbeit nieder. Das war ein Fanal. Niemand hatte es für möglich gehalten, dass in ­solchen Branchen je gestreikt würde. Eine neue Bewegung war geboren: «Fight for 15». Ein Mindestlohn von 15 Dollar pro Stunde sollte ein halbwegs anständiges Leben ermöglichen. Diese Forderung traf einen Nerv. Und sie animierte viele Beschäftigte im Land. Schon zwei Jahre später streikten 60 000 Tieflohnangestellte in 200 Städten.

MILLIARDEN MEHR LOHN

Heute, zehn Jahre später, ist die Bilanz dieser Bewegung eindrücklich. Laut Berechnungen des «National Employment Law Project», einer auf Arbeit und Beschäftigung spezialisierten NGO, werden jährlich 150 Mil­liarden Dollar mehr Lohn ausbezahlt – Geld, das vorher in den Taschen von Aktionären und Reichen landete. Vom Lohnanstieg profitierten rund 26 Millionen Arbeitende, darunter rund 12 Millionen «People of color», die im Mittel pro Jahr 6000 Dollar mehr Geld auf dem Konto haben. Zehn US-Staaten haben den gesetzlichen 15-Dollar-Mindestlohn eingeführt. Hawaii steuert sogar auf 18 Dollar zu.

Die Bewegung wird von den Betroffenen selbst geführt. Die grossen Gewerkschaften bleiben unterstützend im Hintergrund. Dies macht «Fight for 15» besonders vertrauenswürdig. Und die Bereitschaft unter Betroffenen, sich zu engagieren, wächst. So entstanden neue, unkonventionelle Basisgewerkschaften in Tieflohnbranchen. Sie sind laut, bunt, urban und migrantisch. Wie der Ex-Rapper Chris Smalls mit seiner «Amazon Labor Union». Dem Afroamerikaner gelang das Kunststück, gegen alle Widerstände die erste Gewerkschaft im Amazon-Imperium des Mehrfachmilliardärs Jeff Bezos zu gründen (work berichtete: rebrand.ly/smalls).

KANTONE MACHEN ES VOR

Lange tat die bürgerliche Ökonomie den vom Staat verhängten Mindestlohn als unnütz und schädlich ab. Dass er Armut verhindert und Lohnungleichheit mildert, blieb unbeachtet. Jetzt hat der Wind gedreht. Der gesetzliche Mindestlohn ist auf dem Vormarsch. In der Schweiz ist er in fünf Kantonen Tatsache: Neuenburg, Jura, Genf, Tessin und Basel-Stadt. Er liegt zwischen 19 und 23 Franken pro Stunde. Eine Frucht der Unia-Kampa­gnen, die ebenfalls ein ­Jubiläum feiern: Vor 25 Jahren, 1998, startete die Kampagne «Kein Lohn unter 3000 Franken», der später jene für 4000 Franken pro Monat folgte. Noch immer gibt es Tausende, die weniger verdienen. Das Ziel ist noch nicht erreicht.

Auch bei der EU hat der Wind gedreht. Der EU-Rat in Brüssel erliess im Herbst nach längerem Tauziehen eine Mindestlohn-Richtlinie. Sie schreibt zwar keinen minimalen Stundenlohn, jedoch verbindliche Referenzwerte für die Berechnung vor. Und fast noch wichtiger: Die Mitgliedländer müssen jetzt die Gewerkschaften als Trägerinnen von Gesamtarbeitsverträgen fördern. Der deutsche Mindestlohn-Experte Thorsten Schulten freut sich: «Ein fundamentaler Richtungswechsel!» (siehe Box ganz rechts unten). Auch wenn es auf die Umsetzung in den einzelnen Ländern ankommt, glaubt Schulten, dass die neue Richtlinie zu einer echten Umwälzung im Kampf gegen Erwerbsarmut und soziale Ungleichheit führen kann.

Überall geht der Kampf weiter. In den USA will sich «Fight for 15» auf die Südstaaten konzentrieren. Dort liegen die Löhne generell tiefer, und die Zahl schwarzer Arbeiterinnen und Arbeiter ist höher. In der Schweiz sind lokale Mindestlohn-Initiativen in Zürich und Winterthur hängig. Die Botschaft, die allen Mindestlohn-Bewegungen zugrunde liegt, hat sich aber nicht geändert. SIEU-Präsidentin Mary Kay Henry hat diese treffend umschrieben: «Wenn du dich mit andern zusammentust, kannst du deinen Job und dein Leben verändern.»

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