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«Wir, die Saisonniers …»

Ralph Hug

Mit dem unmenschlichen Saisonnierstatut beutete die Schweiz jahrzehntelang Migrantinnen und Migranten aus. Das Neue Museum Biel will Betroffene ermutigen, über ihr Schicksal zu sprechen.

Fast 70 Jahre lang mussten sie unten durch: die Saisonniers und Saison­nières aus Italien, Spanien, Portugal und Ex-Jugoslawien. Zu Hunderttausenden arbeiteten sie in Industrie, Bau und Landwirtschaft für die moderne Schweiz. Ihre Kinder mussten sie zurücklassen oder verstecken (work berichtete: rebrand.ly/baby-ausweisen). Heute, zwanzig Jahre nach dem Ende des Saisonnierstatuts, warten sie noch immer auf eine offizielle Entschuldigung und auf finanzielle Entschädigungen. Auch eine breite öffentliche historische Aufarbeitung fehlt. Das will das Neue Museum Biel jetzt ändern. Kurator Florian Eitel sagt: «Wir stellen die Saisonniers ins Zentrum unserer Ausstellung.» Die Schau mit dem Titel «Wir, die Saisonniers» wurde soeben eröffnet. Es ist die erste ihrer Art in der Deutschschweiz (siehe Box) und schreibt daher selbst Geschichte.

50’000 Kinder wuchsen im Verborgenen auf, weil sie offiziell nicht in der Schweiz sein durften.

LEBENSTRAUMA

Das berüchtigte Saisonnierstatut blieb 68 Jahre lang in Kraft, nämlich von 1934 bis 2002. Nach dem Zweiten Weltkrieg legten Vereinbarungen mit unseren südlichen Nachbarn den Grundstein für die steil ansteigende Arbeitsmigration. Zunächst aus Italien, dann auch aus Spanien und Portugal und schliesslich aus den Ländern Ex-Jugoslawiens. Es entstand die Baracken-Schweiz mit ihren prekären Wohnverhältnissen, der Ausbeutung der jungen Arbeiterinnen und Arbeiter, der fremdenpolizeilichen Überwachung und der gesellschaftlichen Diskriminierung durch eine oft feindselige oder gar rassistische Schweizer Bevölkerung. Mittlerweile wird das Ausmass der Unmenschlichkeit klar: Rund 50 000 Saisonnier-Kinder – viel mehr als bisher geschätzt – wuchsen im Verborgenen auf, weil ihre Anwesenheit gemäss Statut illegal war. Die Angst, entdeckt und ausgewiesen zu werden, wurde für viele zum Lebens­trauma.

Dies alles zeigt die Bieler Ausstellung anhand von Dokumenten und Objekten. «Was uns jedoch fehlt, sind konkrete Lebensgeschichten», sagt Kurator Eitel. «Deshalb möchten wir die Betroffenen ermutigen, ihre eigene Geschichte zu erzählen.» So steht in der Ausstellung eine Telefonkabine aus dem Jahr 1973, wo Interessierte ihre persönlichen Erlebnisse erzählen können. Vor einem halben Jahr hatte das Museum einen Aufruf lanciert in der Hoffnung, dass sich ehemalige Saisonniers und Saisonnières melden und so das Museum mit ihren Lebenserfahrungen bereichern. Einiges sei zusammengekommen, so Kurator Eitel. Es habe sich aber auch ­gezeigt, dass viele Betroffene Mühe hätten, sich dieser belastenden Vergangenheit zu stellen. Immerhin: Die Bieler Ausstellung darf als Meilenstein für die kollektive Rehabilitierung der Saisonniers und die Aufklärung über ein düsteres Kapitel Schweizer Geschichte gelten.

Die Ausstellung dauert bis im Juni 2023. Während dieser Zeit gibt es ein reichhaltiges Begleitprogramm mit Führungen, Hörspielpräsentationen, Lesungen, Gesprächen mit Zeitzeuginnen und -zeugen und einer Filmreihe. Als grösste Gewerkschaft und Migrationsorganisation im Land hat die Unia bei der Realisierung mitgeholfen. Marilia Mendes, Unia-Mi­grationsverantwortliche: «Wir unterstützten das Museum mit unseren Kontakten und halfen bei der Suche nach Zeuginnen und Zeugen.»

Saisonniers: Erste Aufarbeitung

Den Auftakt der Museen machte die Stadt Genf 2019 mit der Ausstellung «Nous, saisonniers, saisonnières…». Es folgte Lausanne 2021 mit der Schau «Losanna, Svizzera» zur 150jährigen Migration aus Italien.

VERSTECKT. Noch bis März 2023 ist im Historischen Museum von La Chaux-de-Fonds die erste Aus­stellung über versteckte Kinder zu ­sehen. Und das Historische ­Museum St. Gallen zeigte 2018 die Fotoausstellung «Grazie a voi». Im Fokus stand dabei die Migration aus Ita­lien, nicht aber die Saisonniers im speziellen. (rh)

Ausstellung «Wir, die Saisonniers», Neues Museum Biel, Programm: nmbiel.ch.

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