Arbeitgeber-Präsident Valentin Vogt (62) tritt ab
Jetzt übernimmt die Finanzindustrie

Seit seiner Gründung wurde der Schweizerische Arbeitgeberverband (SAV) von Industriellen angeführt. Mit dem Rücktritt von Valentin Vogt endet diese Ära. Auf ihn folgt Severin Moser, ein Versicherungs­manager.

UND TSCHÜSS: Arbeitgeber-Chef Valentin Vogt geht. (Foto: 13Photo)

Die NZZ formulierte es so: «Die Nachfolge ist insofern aussergewöhnlich, als mit Moser erstmals ein Kandidat des Dienstleistungssektors für das Präsidium des SAV vorgeschlagen wird.» Das ist lehrbuchmässig korrekt. In der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung zählen zum Dienstleistungssektor auch Banken und Versicherungen. Genauso wie etwa der Handel, das Gastgewerbe, das Gesundheitswesen und der Verkehr. Doch eben, Severin Moser ist weder Detailhändler noch Pfleger. Sondern ein Versicherungsmanager. Also ein Vertreter der Finanzindustrie. Das ist ein grosser Unterschied. Weil die Finanzindustrie in zentralen Fragen andere Interessen hat als der Werkplatz.

Die Frage lautet: «Alpen-Singapur» oder Werkplatz Schweiz?

RÜCKBLICK I

Valentin Vogt hat sein berufliches Leben in der Indus­trie verbracht. Zuerst angestellt, seit 20 Jahren als Miteigentümer des Winterthurer Maschinenbauers Burckhardt. Sein Nachfolger Severin Moser ist schon sein ­ganzes Berufsleben bei Versicherungen. Die unterschiedlichen Prägungen von Vogt und seinem Nachfolger sind nicht banal, wie ein kurzer Rückblick zeigt. In den 1980er-Jahren organisierten die Grossbanken eine erste Deindustrialisierungswelle. Die damalige Bahnindustrie zum Beispiel wurde gezielt zerstört, die Uhrenindustrie sollte nach Asien verkauft werden. Flankiert wurde diese Anti-Werkplatz-Politik durch die Schweizerische Nationalbank. Deren damaliger Chef Markus Lusser vernichtete mit seiner Hochzinspolitik rasch 100’000 reale Jobs.

Das war weder damals noch heute einfach Unvermögen oder Bösartigkeit. Dahinter steckt eine Ideologie. Die Finanzindustrie träumt von einer Schweiz als «Alpen-Singapur»: einem Banken- und Versicherungsland ohne Industrie, viel Polizei und keinen Gewerkschaften. Rechte Denkfabriken haben entsprechende Landkarten längst gezeichnet. Politisch unterstützt wird dieses Konzept seit Jahren von der Milliardärspartei SVP.

RÜCKBLICK II

Der Schweizerische Arbeitgeberverband (SAV) beziehungsweise seine Vorgängerorganisationen gibt es seit 1908. Die meiste Zeit führte er mit Unterbrüchen «eine pragmatische, relativ sozialpartnerschaftliche Politik», schreibt der ehemalige Unia-Co-Präsident und work-­Kolumnist Andreas Rieger in seiner Studie zu den Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbänden in der Schweiz (siehe Box). Für ­einen dieser Unterbrüche stehen die ersten Jahre von Vogts Amtszeit. Er übernahm vom Berner Freisinnigen Rudolf Stämpfli Mitte 2011. Dieser hatte – wie seine Vorgänger – die Blocher-SVP erfolgreich draussen gehalten. Mehr noch, es kam zu Kompromissen mit verstärkten flankierenden Mass­nahmen (FlaM) zur Personenfreizügigkeit mit der EU. Diese sind der SVP und anderen marktradikalen Ideologen ein Dorn im Auge. Vogt wollte sich an die SVP annähern und fuhr eine harte antigewerkschaftliche und antisoziale Linie. ­Im Vorfeld der «Masseneinwanderungsinitiative» wollte er nichts von verstärkten FlaM wissen. Trotz Kritik in den ­eigenen Reihen. Die Initiative kam mit 50,3 Prozent durch. Vogt schmiss sich danach mit «seinem» SAV noch mehr an die SVP heran – sogar noch, als diese die «Kündigungsinitiative» lancierte, die brutale Folgen für den Werkplatz gehabt hätte. Unter anderem wollte er das unmenschliche Kontingentsystem wieder einführen. Oder tönte an, ein 100-Prozent-Lohn müsse nicht unbedingt zum Leben reichen. Schliesslich gebe es ja Sozialhilfe.

DER NEUE: Severin Moser. (Foto: PD)

EINSICHT?

Erst seit 2019 ist der SAV unter Vogt wieder eher für Kompromisse mit den Gewerkschaften und den fortschrittlichen Parteien zu haben. Wohl nicht zuletzt, weil die Abschottungsparolen der SVP trotz aller Anbiederung immer radikaler wurden.

Mit Vogts «Verwandlung» («NZZ am Sonntag») gelangen soziale Projekte wie die Überbrückungsrente für ausgesteuerte Ältere, das erste neue Sozialwerk seit Jahrzehnten. Oder der Kompromiss von Arbeitgebern und Gewerkschaften bei der Reform der zweiten Säule. 2020 bekämpfte Vogt Seite an Seite mit SGB-­Präsident Pierre-Yves Maillard die SVP-Kündigungs­initiative, die ihn 2014 noch nicht gestört hatte. In den vergangenen Monaten hat Vogt wieder offensiv neo­liberale Töne angeschlagen. Sprach etwa im Sommer noch von «einem ganz normalen Lohnherbst», trotz massiv steigender Teuerung und Explosion der Krankenkassenprämien.

AUSBLICK

Versicherungsmanager Severin Moser wird zweifellos zum Nachfolger von Valentin Vogt gewählt. Wie und wo er den Arbeitgeberverband wirtschafts- und sozialpolitisch verorten wird, wird wohl seine Antrittsrede zeigen. «Alpen-Singapur» oder Werkplatz Schweiz?

Vogt jedenfalls hatte in seiner Antrittsrede vor elf Jahren klargemacht, was er die nächsten Jahre verfolgte: Sozialabbau und Schwächung der Arbeitnehmendenrechte. Auch dank den starken Gewerkschaften ist er damit mehrheitlich gescheitert.

Studie: Alte Verbände, neue Macht

work-Kolumnist Andreas Rieger legte im vergangenen Jahr auf gut vierzig Seiten eine profunde Analyse zu Geschichte und Gegenwart der Verbände der Arbeitgeber vor. Rieger weiss, wovon er schreibt: Als ehemaliger Co-Präsident der Unia focht er selbst während Jahren viele Kämpfe mit den Arbeitgebern aus. In seinem Arbeitspapier zeigt er auf, wie stark sich die Arbeitgeberszene in der Vergangenheit gewandelt hat.

IM WANDEL. Arbeitgeberverband, Gewerbeverband und Economiesuisse kommen zwar praktisch täglich in den Medien vor. Doch immer stärker etablieren sich neben den Dachverbänden auch jene aus den Branchen. Wie etwa Allpura (Reinigung), Curaviva (Pflege) oder die neu positionierte Swiss Retail (Detailhandel). Ihr Aufstieg spiegelt den Wandel zur Dienstleistungs­gesellschaft. Rieger porträtiert in seiner Studie diese wenig bekannten Newcomer der Wirtschaftslobby. Sie stehen nicht im Rampenlicht, haben aber doch viel Einfluss und sind wichtig im Kampf um neue Gesamtarbeitsverträge. Wer meint, der Einfluss der Wirtschaftsverbände sei verschwunden, geht fehl.

Andreas Rieger: Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände in der Schweiz. Bestellung bei Unia Kommunikation, Weltpoststr. 20, 3000 Bern. Download: rebrand.ly/rieger-verbände

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