Spielfilm «Unrueh»:

Ausgerechnet im Jura entwickelten Büezerinnen und Büezer anarchistische Ideen

Ralph Hug

Vier vornehme Damen aus dem russischen Adel sinnieren in exquisiter Umgebung über den Anarchismus. Mit dieser irritierenden Einstellung beginnt «Unrueh», der neue Film des Zürcher Autors Cyril Schäublin. Die Szene kommt aber nicht von ungefähr. Denn ein Verwandter dieser Damen ist Peter Kropotkin (1842 bis 1924, Bild oben), einer der Stammväter des Anarchismus. Kropotkin kam 1872 als Geograph und Landvermesser in die Schweiz.

Im Jura sah er, wie die Uhrmacherinnen und Uhrmacher in den Fa­briken und Ateliers sich selber organisierten, jegliche Herrschaft ­ablehnten und über alle Grenzen hinweg Solidarität pflegten. Kropotkin war fasziniert, er wurde dort zum überzeugten Anarchisten. Bis an sein Lebensende propagierte er fortan in Büchern und Broschüren das Modell einer freien Gesellschaft ohne Unterdrückung.

Peter Kropotkins Aufenthalt ist für Autor Schäublin die Rahmenerzählung. Wer aber den einflussreichen Russen als Hauptfigur im Film erwartet, wird enttäuscht. Der junge Mann läuft nur schweigsam durch die Gegend, ein aufmerksamer Beobachter. Als er sich in die schöne Arbeiterin Josephine Gräbli (Bild Mitte) verliebt, wird diese ­Liaison nur diskret angedeutet. Schäublin rückt anderes ins Zentrum: nämlich den Kapitalismus, wie er die Menschen in Besitz nimmt und die Verhältnisse umwälzt. So unaufhaltsam wie ein Uhrwerk. Der Vormarsch des Profitsystems ist das Hauptthema dieses eigenwilligen Werks.

Der durchrationalisierte Betrieb hat in der Uhrenfabrik seinen Ursprung.

UHR-DIKTAT. So sehen wir, wie die Uhr in der Uhrenfabrik zur Rationalisierung der Produktion und zur Gewinnsteigerung genutzt wird. Wie viele Sekunden dauert es, bis eine Unruh, das Herzstück in der Mechanik, montiert ist? Bis die Spiralfeder korrekt schwingt? Die Arbeiterinnen und Arbeiter werden immer mehr zu Sklaven eines totalitär anmutenden Betriebs. Sogar die Wegstrecken auf dem Fabrikgelände werden gemessen, damit keine Zeit verloren geht. Die Uhr zwingt zum Gleichschritt, verschärft die Ausbeutung und ermöglicht die Totalüberwachung der ­Arbeitnehmenden. Der durchrationalisierte Betrieb hat in der Uhrenfabrik seinen Ursprung.

All dies zeigt Schäublins Film in eindrucksvollen Bildern. Das Räderwerk der Uhr wird zur Metapher der industriellen Revolution, die unerbittlich vordringt, selbst in entlegene Täler wie im Jura. Tatsächlich gehörte die Uhrenindus­trie zu den ersten Branchen, die unter Globalisierungsdruck gerieten. Ganze Dörfer wie Saint-Imier produzierten schon früh für den Weltmarkt und waren ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Wohl waren anarchistische Ideen unter den Uhrmacherinnen und Uhrmachern verbreitet. Sie führten zu Streiks, aber nicht zu Aufständen. Im Jura brannten keine Fabriken. Auch in Schäublins Film fliegen keine Fäuste, es explodieren keine Bomben. Es dominiert eine latente Spannung ohne Ausbruch. Unruhe herrscht. So handelt der Film von der Unrast einer Gesellschaft im Umbruch genauso wie von der Utopie eines besseren Lebens. Wie aber der Weg dahin führen soll, das lässt der Film ­offen. (rh)

Der Film Unrueh läuft aktuell im Kino.

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