Editorial

Solidarität beginnt bei einem Bruch

Anne-Sophie Zbinden

Anne-Sophie Zbinden, Chefredaktorin

Dass Sexualität kein Tabu-Thema mehr ist, haben wir auch Margaret Mead (1901–1978) zu verdanken. Die US-Amerikanerin reiste 1925 alleine auf die Pazifikinsel Samoa, um das Heranwachsen und das sexuelle Verhalten junger Mädchen zu erforschen. Aus dieser und anderen Feldforschungen zog sie den Schluss: Das Umfeld bestimmt das Verhalten der Geschlechter und nicht die Biologie. Mit dieser These wurde Mead zu einer der berühmtesten und auch umstrittensten ­Ethnologinnen ihrer Zeit.

Mead wird eine Anekdote zugesprochen, die aktueller nicht sein könnte: Als Mead von einer Studierenden gefragt wurde, was sie historisch als erstes Zeichen der Zivilisation betrachte, war ihre Antwort so überraschend wie einleuchtend: Es sei ein gebrochener und wieder zusammengewachsener Oberschenkelknochen. Kein Tier in der Wildnis überlebe einen Beinbruch lange genug, damit er heilen könne. Der geheilte Oberschenkelknochen beim Menschen erbringe den Beweis, dass sich jemand um den Verletzten gekümmert, ihn gepflegt und lange genug geschützt habe, bis der Knochen geheilt war.

Streiken zahlt sich aus – wortwörtlich.

BEINBRUCH. In anderen Worten: Nur Solidarität bringt uns weiter. Dass es sich wortwörtlich auszahlt, sich zusammenzuschliessen, zeigen die Uhrenarbeiterinnen und -arbeiter. Als Ausgleich für die Teuerung erhalten sie 3,6 bis 6,1 Prozent mehr Lohn. Hätte eine Uhrenarbeiterin alleine eine Lohnerhöhung von 6,1 Prozent verlangt, hätten die Chefs wohl nur gelacht. Jetzt profitieren 50 000 Menschen von höheren Löhnen.

Oder die Mitarbeitenden des öffentlichen Verkehrs in Genf: Mit einem halben Teuerungsausgleich wollte die Direktion die Busfahrerinnen und Tramfahrer abservieren. Doch 600 von ihnen taten sich zusammen und legten eineinhalb Tage lang den städtischen Verkehr lahm. Und siehe da: Jetzt gibt’s den vollen Teuerungsausgleich gemäss ihrem Personalstatut und obendrauf noch eine Prämie von 400 Franken (s. Jetzt gibt es bis zu 6.1 Prozent mehr Lohn und Busfahrerinnen und Tramfahrer erstreiken sich mehr Lohn).

Beim Flugabfertiger Swissport reichte eine Streikankündigung. Plus ein Protesttag, an dem Hunderte Mitarbeitende teilnahmen. Plus neun zähe Verhandlungsrunden. Doch dann kam der neue GAV zum Fliegen: Fast sämtliche Forderungen der Arbeiterinnen und Arbeiter wurden erfüllt. Sie erhalten 4 Prozent mehr Lohn und eine Prämie von 500 Franken (s. Jetzt ist endlich Schluss mit dem Krisen-GAV).

AUFBRUCH. Ob bei den Bauleuten eine Streik­ankündigung reicht, ist noch ungewiss. Zu unvernünftig zeigen sich die Baumeister. Zu stur beharren sie auf ihren Forderungen: Sie wollen fast alle Arbeitszeitschranken einreis­sen. Aufbauen wollen sie hingegen die Arbeit auf Abruf. Und damit Mini-Einsätze von wenigen Stunden ermöglichen oder sogar Null-Stunden-Wochen. Gleichzeitig sollen die Bauleute im Sommer fast nonstop chrampfen. 58 Stunden pro Woche, 12 Stunden pro Tag! Das würde bedeuten, dass sich die Baubüezer im Frühling von ihren Familien verabschieden können und sie de facto erst im Herbst wiedersehen.

Doch so weit ist es noch nicht. Am 17. Oktober standen im Tessin 80 Prozent der Baustellen still. 2500 Tessiner Baubüezer versammelten sich in Bellinzona und liessen die Meister wissen: Basta, jetzt ist genug! Und das ist erst der Anfang (s. Und die Protestwelle rollt).

1 Kommentar

  1. Stefan Hilbrand

    Solidarität beginnt bei der Inflation

    Löhne erhöhen und Gewinne besteuern hilft (Clemens Studer), aber weder langfristig noch jenen, deren Beinbruch nicht von alleine heilt: Alten, Studierenden, Teilzeit, Kleinbauern, Alleinerziehenden, Gig-Economy, Frauen (!), Stellenlosen bis zu Start-Ups.
    Besser wäre ein grundeinkommenschweiz.ch, es werden dringend Unterschriften für die Initiative gesammelt.

    herzlich
    Stefan Hilbrand

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