Nach 36 Jahren verliert Bundesbern seinen bekanntesten Schnauz

Paul Rechsteiner über Frauen­renten und Bauernkönige

Ralph Hug

Auf Ende Jahr tritt der St. Galler SP-Ständerat Paul Rechsteiner (70) zurück. work hat den Ex-SGB-Präsidenten zum Abschieds-­Interview getroffen.

MIT GANZEM HERZEN dabei: Als Ständerat und Gewerkschafter setzte sich Paul Rechsteiner immer hartnäckig gegen Rentenklau und für den Lohnschutz ein. (Foto: Stephan Bösch)

work: Paul Rechsteiner, Sie wirken auch mit 70 Jahren kein bisschen müde. Weshalb treten Sie zurück?
Paul Rechsteiner: Man muss wissen, wann man etwas beginnt, aber auch, wann und wie man es abschliesst. Der Rücktritt schafft für die anspruchsvollen St. Galler Wahlen neue Voraussetzungen.

Der «Leuchtturm Rechsteiner» bedeutet für viele Hoffnung, er wird nun fehlen. Was gab es für Reaktionen auf Ihren Rücktritt?
Viele Menschen haben mir ge­schrieben. Am meisten haben mich jedoch die Reaktionen auf der Strasse beeindruckt. Die Wertschätzung und das Bedauern zeigen, wie wichtig es ist, dass die sozialen Inter­essen glaubwürdig und wirksam vertreten werden. Das werde ich als Anwalt auch weiterhin tun.

Gerade ist ein Dokumentarfilm erschienen*, der den Skandal um die 20 Milliarden abgezweigter Pensionskassengelder im Jahr 2002 neu aufrollt. Als SGB-Präsident setzten Sie sich für die Sicherung der Arbeitnehmenden-­Guthaben ein.
Ja, das war ein zentraler Aspekt bei Plünderung und Pleiten von Pensionskassen. Ich erinnere mich an den Fall Omag in Mels SG im Jahr 1992. Dank gewerkschaftlichen Aktionen gelang es nicht nur, die Guthaben zu sichern. Sondern im Parlament auch eine gesetzliche Regelung zum Schutz der Pensionskassengelder zu erreichen. Gemeinsam mit dem kürzlich verstorbenen Direktor des Arbeitgeberverbands Heinz Allenspach.

Etwas weniger bekannt ist Ihre wichtige Rolle im Engagement der Gewerkschaften gegen die Folgen von Asbest.
Die Suva stellte sich bei der Entschädigung von Opfern lange Zeit taub. Bis wir, auch dank einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Men­schenrechte in Strassburg, eine neue Regelung durchsetzen konnten. Wie wichtig sie ist, habe ich vor kurzem bei jemandem erlebt, der vor Jahrzehnten als Elektriker gearbeitet hatte. Er glaubte zuerst, er habe Corona, bis sich herausstellte, dass die Ursache für sein Leiden das heim­tückische Mesotheliom, eine Art Asbestkrebs, war. Dank der neuen Regelung wurde er, und jetzt seine Witwe, wenigstens anständig entschädigt.

In Ihre zweitletzte Session als Ständerat fällt das schmerzliche Ja zur AHV-Reform. Es fiel denkbar knapp aus. Wie geht es jetzt weiter mit der AHV?
Die Gewerkschaften haben eine starke und glaubwürdige Kampagne geführt. Angesichts des hohen Nein-Anteils dürfte die Rentenaltersfrage für die nächsten Jahre erledigt sein. Man muss sehen, dass die Schweiz im europäischen Vergleich mit Rentenalter 65 gut dasteht. Sonst gilt 67 und mehr. Jetzt braucht es bessere AHV-Renten, auch weil die Renten der Pensionskassen ständig schlechter werden. Deshalb ist die Initiative für eine 13. AHV-Rente so wichtig.

Die Wut der Frauen über die Anhebung ihres Rentenalters bei gleichzeitig anhaltender Lohndiskriminierung ist gross. Für 2023 ist wieder ein grosser Frauenstreik geplant.
Bereits der grosse Frauenstreik von 1991 löste einen Schub in Sachen gleiche Rechte aus. Stets war es die Frauenbewegung, die mit ihren Aktionen soziale Fortschritte bewirkte. Und das wird auch so bleiben.

«Die Diskussion über eine Rentenalterserhöhung dürfte vorerst erledigt sein.»

Die rechten Parteien fühlen sich jetzt gestärkt. Wirtschaft, Gewerbe und der Bauernverband haben fürs nächste Jahr sogar eine Wahlallianz angekündigt. Erstaunt Sie dieser Schwenk der Bauernlobby?
Bauernpräsident Markus Ritter ist ein Schlitzohr. Er übernimmt die ­Positionen der Wirtschaftsverbände und lässt sich dafür in der Landwirtschaftspolitik teuer bezahlen. Er folgt damit dem Beispiel des legendären Bauernführers Ernst Laur. Im Generalstreik von 1918 hatten die Bauern das Geldbürgertum gegen die Arbeiter verteidigt. Ritter ist es dabei egal, dass dabei, wie bei der AHV-Abstimmung, die Interessen der Bäuerinnen auf der Strecke bleiben.

Die Lage der Menschen mit bescheidenen Einkommen verschlechtert sich dramatisch. Da braut sich massiver sozialer Sprengstoff zusammen. Was tun?
Es braucht dringend den Teuerungsausgleich. Ohne gewerkschaftlichen Druck hätte der Bundesrat die Altersrenten nicht der Teuerung angepasst. Es wird wiederum von den Gewerkschaften abhängen, ob die Löhne steigen und ob es Reallohnerhöhungen gibt. Und es braucht eine aktive Mieterbewegung, um den bevorstehenden Anstieg der Mieten zu kontern.

Im Sommer 2020 haben Sie bei den Verhandlungen für das Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU den Lohnschutz vehement verteidigt. Nach dem Abbruch der Verhandlungen versuchen die Wirtschaftskreise jetzt einen Neustart. Was halten Sie von ihrer Strategie?
Von einer Strategie kann man heute und konnte man beim Rahmenabkommen nicht reden. Eher davon, wie man in etwas hineinstolpert und dann die Notbremse ziehen muss. Bei unserem Aussenminister Ignazio Cassis ist weder Urteilskraft noch Orientierungsvermögen erkennbar. Daher sind die Risiken nicht kleiner geworden. Das Erfolgsrezept der Bilateralen ist und bleibt der Sozialschutz mit den Lohnkontrollen, den Mindestlöhnen und den tripartiten Kommissionen. Ob eine tragfähige Lösung mit der EU gefunden wird, wird sich wohl erst nach den Wahlen zeigen.

*siehe «Neuer Dok-Film über Einführung der 2. Säule.»


Reaktionen zum Rücktritt«Dank dir konnte ich jubeln!»

Nach seiner Rücktrittsankündigung erreichte Paul Rechsteiner eine Welle von Nachrichten aus der ganzen Schweiz. work dokumentiert einige davon.

OHNE ALLÜREN
Einer der integersten Politiker, die das Land hat. Ohne jegliche Allüren. Ich werde Sie ver­missen!
Ulla Armbruster

UNERMÜDLICHER EINSATZ
Herzlichen Dank für deinen unermüdlichen Einsatz zum Wohle der Arbeiterschaft. Du wirst in Bern fehlen.
Ernst Keller

MEIN GRÖSSTER MOMENT
Lieber Paul, schade, dass du zurücktrittst, aber schön, dass du so lange für uns Politik gemacht hast. Herzlichen Dank für deinen grossen Einsatz.
Du stehst für meinen grössten Jubelmoment in der Politik, ­neben der Abwahl von Christoph Blocher! Ich wollte nicht miter­leben, wie Toni Brunner seinen Sieg feiert, und ging in die Arena zum Heimspiel des FCSG. Ich hoffte auf deinen Sieg in der Ständeratswahl, aber konnte nicht so recht daran glauben. Plötzlich, während des Spiels, brachen Zuschauer auf der Tribüne in Jubel aus, scheinbar ohne Grund, jedenfalls war auf dem Spielfeld nichts Nennenswertes passiert. Dann umarmten sich die Leute in den Reihen vor mir, und ich hörte deinen ­Namen! Wir lagen uns alle in den Armen, obwohl ich die ­Leute kaum kannte und schon gar nicht annehmen konnte, dass sie auf meiner politischen Linie liegen könnten. Noch ­heute, wenn ich daran, kriege ich ­Hühnerhaut! Alles Gute, auch von meiner Frau, für deine Zukunft, und vielen Dank!
Guido Bruggmann

SOZIALES HERZ
Lieber Paul, dein scharfer Verstand und dein soziales Herz werden sehr fehlen! Danke dir und alles Gute!
Theres Roth-Hunkeler

MUTIGE AUFTRITTE
Paul Rechsteiner hielt seine ­Linie immer ein, kein Wendehals, von denen es auch in St. Gallen einige gab, von der Mitte bis nach rechts, vom ehemaligen LdU zur Kapital­seite und so weiter und so fort. Paul Rechsteiners mutige Auftritte werden im Parlament fehlen, ein Kämpfer auch für den kleinen Mann von der Strasse, er ist noch jugendlich und macht weiter in seiner Anwalts­praxis, das ist gut so.
Franz Rechsteiner

DER EINZIG WAHRE SCHNAUZ
Der wohl einzige Schnauz, den ich vermissen werde.
Yvonne Kräuchi-Girardet

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