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Vor 150 Jahren entstand im Berner Jura die anarchistische Internationale

Ralph Hug

Im September 1872 war das kleine Dorf Saint-Imier im Berner Jura ein weltgeschichtlicher Brennpunkt: Anarchisten aus ganz Europa ver­sammelten sich dort ­zu einem Kongress. Er sollte weitreichende Folgen haben.

IN DER ENGE DER ATELIERS: Den Uhrmachern von damals bot der Anarchismus die Vision einer besseren Welt. (Bildarchiv Hr.Bramaz)

Die Kongressteilnehmer, lauter Männer, waren erbost. Ihre Zielscheibe: Karl Marx, Chef der Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA). Ihm warfen sie autoritäres Gebaren und diktatorischen Zentralismus vor. Das war nicht nach dem Geschmack von Anarchisten. Und der Grund, weshalb sie am 15. September 1872 nach Saint-Imier ins Hôtel de ville kamen. Diese Revolutionäre wollten zwar ebenfalls den ausbeuterischen Kapitalismus los werden. Wie Marx predigten auch sie den Umsturz. Aber sie lehnten Zwang, Hierarchie und Herrschaft strikte ab. Stattdessen propagierten sie individuelle Freiheit, Autonomie und Selbstverwaltung. «Ni dieu ni maître» (weder Gott noch Meister) sollte ihre ­berühmte Losung lauten.

JURASSICHE AKTIVISTEN

Leute mit grossen Namen kamen nach Saint-Imier. Etwa Michail Bakunin, ein wichtiger Theoretiker des Anarchismus. Der bärtige Russe beeindruckte die Menschen durch seine mächtige Gestalt. Er konnte stundenlang referieren und pausenlos rauchen. Bakunin war bei vielen Aufständen und Umstürzen in ganz Europa an vorderster Front dabei gewesen. Unter den Anarchistinnen und Anarchisten galt er als die personifizierte Revolution. Auch der Italiener Giuseppe Fanelli und der damals erst 20jährige Errico Malatesta waren in Saint-Imier anwesend. Eine Hauptrolle am Kongress spielten aber drei Schweizer.

Anarchie im Kino: «Unrueh»

Der Zürcher Filmemacher Cyril Schäublin hat einen Spiefilm über die Uhrmacherinnen und Uhrmacher im Jura und den Anarchismus gedreht: «Unrueh» blendet zurück in die 1870er Jahre, als die Globalisierung die Uhrenindustrie im Jura erfasste und dort unter den Büezerinnen und Büezern anarchistische Ideale erblühen liess. Schäublin erhielt an der diesjährigen Berlinale den Preis für die beste Regie. Der Film kommt im November in die Schweizer Kinos.

Der Lehrer James Guillaume sowie die Brüder Léon und Adhémar Schwitzguébel waren Einheimische. Sie hatten schon früh anarchistische Ideen verbreitet und die Jura-Föderation gegründet. Im Umfeld der Uhrmacher von Saint-Imier und Sonvilier fanden sie ein fruchtbares Umfeld.

Warum sich der Anarchismus gerade dort so gut ausbreiten konnte, hat Florian Eitel, heute Kurator für Geschichte am Neuen Museum in Biel, in einer umfangreichen Studie untersucht.* Das abgelegene Tal war damals im Umbruch. Eisenbahn und Telegraphie zogen ein, Firmen wie Longines produzierten für den Weltmarkt. Diese Globalisierung verunsicherte die Uhrmacher zutiefst und schweisste sie zusammen. Der Anarchismus bot ihnen den Traum vom besseren Leben in einer herrschaftsfreien Welt ohne Ausbeutung. So konnte ein unscheinbares Uhrmacher-Dörfchen im Berner Jura plötzlich Weltgeschichte schreiben.

Im Jura entstand das Programm des libertären Kommunismus.

FEINDBILD MARX

Die Fehde mit Übervater Karl Marx trug das Ihre dazu bei, dass Saint-Imier bekannt und zum wichtigsten Erinnerungsort des Anarchismus wurde. Der Kongress diente vor allem dazu, sich von Marx loszusagen und eine eigene Organisation, die antiautoritäre Internationale, zu gründen. Kurz zuvor hatte Marx seinen Widersacher Bakunin, aber auch Guillaume und Schwitzguébel aus der IAA hinausgeworfen. Marx wendete notorisch viel Energie darauf, diese «Abweichler» zu bekämpfen.

Die Ausbeute des Kongresses stand im umgekehrten Verhältnis zu seinen Folgen. Es gab nur vier Resolutionen, die auf gut zwei A4-Seiten Platz hatten. Aber dieses Papier hatte es in sich. Es skizziert nämlich das Programm des Anarchismus oder libertären Kommunismus, der sich dann zu einer globalen politischen Bewegung entwickelte. Durch Aufstände soll der Kapitalismus überwunden und durch eine freie Assoziation von autonomen Produzenten ersetzt werden: Bis auf den heutigen Tag vermag diese Vision von der grossen Freiheit und einer Welt ohne Zwang Menschen zu begeistern und zu mobilisieren.

In Saint-Imier selber ist das anarchistische Ideengut immer noch lebendig: im Kulturzentrum «Espace noir» und durch Verfechter wie Aktivist Michel Némitz. Er hat zusammen mit einem Kollektiv aus La Chaux-de-Fonds den Dokumentarfilm «Jura libertaire» in Erinnerung an den Kongress gedreht. Die Unia hat das Werk mit einem Beitrag unterstützt. Und auch der Zürcher Regisseur Cyril Schäublin bringt die anarchistische Geschichte von Saint-Imier demnächst als Spielfilm ins Kino (siehe Box). Die Gemeinde selber aber schweigt lieber über ihre Vergangenheit. Angaben über den historisch wichtigen Kongress sucht man auf ihrer Website vergeblich.

* Florian Eitel: Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz. Transcript-Verlag, Bielefeld 2018.

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