100 Franken weniger im Portemonnaie? Für Gutverdienende durchaus verkraftbar. Für Haushalte mit tiefen Einkommen aber ein Albtraum. Und es dürfte noch schlimmer werden, wenn im Frühling die Nebenkostenabrechnungen ins Haus flattern.
FAMILIEN IN NOT: Lorenz Bertsch erlebt als Schuldenberater die Auswirkungen der Inflation auf Haushalte mit tiefen Einkommen. «Manche überlegen, ob sie besser die Miete oder die Krankenkasse bezahlen sollen.» (Foto: Dirk Frischknecht)
work: Lorenz Bertsch, kürzlich schrieb die NZZ, an der Teuerungsfront sei bisher nichts Dramatisches passiert und bei den Haushaltseinkommen liesse sich kein Katastrophenbild zeichnen.
Lorenz Bertsch: Das stimmt schlichtweg nicht! Die Lebensmittelpreise sind schon gestiegen. Auch das Benzin und der Strom sind teurer. In den Budgets fehlen bereits 100 bis 200 Franken. Viele besorgte Menschen rufen uns bei der Schuldenberatung an.
Und worüber machen sich die Menschen Sorgen?
Da sind zum Beispiel jene, die im Schichtbetrieb arbeiten, in der Industrie, im Detailhandel oder in der Lebensmittelproduktion. Wenn sie morgens um 2 Uhr ihre Schicht anfangen, fährt noch kein ÖV. Sie sind also auf ihr Auto angewiesen. Diese Menschen sagen uns, sie hätten momentan Mehrkosten von 100 Franken im Monat. Kürzlich hat mir eine Frau erzählt, in ihrem Mietshaus habe sich der Preis für eine 40-Grad-Wäsche verdoppelt. Genau solche Sachen laufen jetzt. Eine andere Frau hat mir berichtet, ihr Vermieter habe sie vorgewarnt, dass sich die Nebenkostenabrechnung verdoppeln oder gar verdreifachen werde. Es ist happig, was da im Frühling auf uns zukommt.
«Fürs Essen bleiben pro Monat noch 400 Franken.»
Was kommt denn auf uns zu?
Eine fünfköpfige Familie, die 4000 bis 4500 Franken pro Monat zur Verfügung hat, lebt per Definition an der Armutsgrenze. Bereits heute fehlen diesen Haushalten 100 bis 200 Franken. Aber im Frühling werden es 400 bis 500 Franken sein, weil die Konsumpreise weiter steigen, dazu die Krankenkassenprämien, die Stromkosten … Das wiederum schlägt sich in den Nebenkosten nieder, die im Frühling in Rechnung gestellt werden. Bis Ende 2023 werden diesen Familien 5000 Franken fehlen.
Bereits heute ist jede siebte Person in der Schweiz von Armut betroffen oder bedroht, weil sie nur knapp über der Armutsgrenze lebt. Wird dieser Anteil weiter steigen?
Ja! Denn auch für Haushalte mit einem Budget von 4500 bis 5000 Franken wird’s jetzt eng. Wir gehen davon aus, dass sich für 20 bis 30 Prozent der Bevölkerung in der Schweiz die Einkommenssituation massiv verschlechtern wird. Es besteht die grosse Gefahr, dass sie sich verschulden beziehungsweise zwangsläufig verschulden müssen. Das ist eine sozialpolitische Zeitbombe!
Wie wirken sich die Mehrkosten konkret auf die Haushaltsbudgets aus?
Nehmen wir als Beispiel eine fünfköpfige Familie mit einem Monatseinkommen von 4000 Franken. 60 Prozent davon bezahlt sie für Krankenkasse und Miete, bleiben noch 1600 Franken. Die Hälfte davon, also 800 Franken, braucht’s für Jahreskosten wie Franchisen, Versicherungen, Steuern usw. Das heisst, es bleiben noch 800 Franken für den Lebensbedarf, also für Strom, Kleidung, Essen, Transportkosten oder Schulmaterial der Kinder. Kommen jetzt noch Mehrausgaben zum Beispiel fürs Benzin hinzu, bleiben am Schluss noch 400 Franken fürs Essen. Das reicht schlicht und einfach nicht.
Müssen diese Familien jetzt entscheiden, ob sie essen oder heizen wollen?
Das sind tatsächlich ganz brutale Diskussionen. Aber beim Essen haben wir keine Wahl, daher verzichten viele auf Gemüse und Früchte und heizen weniger. Wir empfehlen auch zu duschen anstatt zu baden, weil Heisswasser ein Kostentreiber für Strom ist. Ausflüge liegen keine mehr drin, geschweige denn eine Mahlzeit im Restaurant, und sei es nur eine Portion Pommes frites. Und da steht dann auch der Vereinsbeitrag des Fussballclubs des Kindes auf dem Spiel. Manche überlegen, ob sie besser die Miete oder die Krankenkasse bezahlen sollen, dann ist die Katastrophe programmiert. Bevor aber eine Familie das Dach über dem Kopf verliert, kann Caritas einspringen.
Was passiert, wenn jemand den Strom gar nicht mehr bezahlen kann?
Schliesslich wird der Strom abgestellt und ein Kasten im Haus bei der Zuleitung installiert. Dort können sie Fünfliber einwerfen für den Strom.
Bereits in der Coronakrise waren Haushalte mit Tief- und Tiefsteinkommen besonders betroffen. Jetzt folgt die nächste Krise …
… und trifft genau die gleichen Menschen. Der Unterschied ist die Kurzarbeit, die hat in der Pandemie etwas abgefedert. Aber der grösste Unterschied liegt in der Dauer. Deshalb sehen wir die aktuelle Krise als länger anhaltend und gefährlicher.
Die Gewerkschaften fordern schon lange Mindestlöhne und den vollen Teuerungsausgleich.
Wenn wir einen Mindestlohn hätten, der auch in den Gesamtarbeitsverträgen verankert ist, wären ganz viele sozialpolitische Probleme behoben. Ein Mindestlohn von 4000 Franken ist aus unserer Sicht einfach ein Muss. Es kann doch nicht sein, dass Leute 100 Prozent arbeiten und nur 2000 Franken verdienen, und das auch noch legal!
Wie bitte, 2000 Franken?
Das war ein Extremfall, ja. Eine Frau aus dem Detailhandel brachte uns eine solche Lohnabrechnung. Was wir aber leider sehr häufig sehen, sind Löhne von 3000 Franken bei 100 Prozent, etwa in der Reinigungsbranche, im Detailhandel oder in der Industrie. Und was wir immer mehr erleben, ist Arbeit auf Abruf. Diese Leute müssen 100 Prozent erreichbar sein, sind aber im Stundenlohn bezahlt und haben keine Mindestarbeitszeiten. Und wenn sie dann mal nicht arbeiten können, dann sind sie ihren Job innert kürzester Zeit los.
Der Nationalrat hat in dieser Session die Motion «Armut ist kein Verbrechen» angenommen.* Menschen, die länger als zehn Jahre in der Schweiz leben, sollen nicht mehr ausgewiesen werden können, wenn sie Sozialhilfe benötigen. Wie ist die Situation für Migrantinnen und Migranten?
Der Beschluss des Nationalrats ist ein Schritt in die richtige Richtung. Denn das grosse Problem ist, dass Migrantinnen und Migranten sich nicht auf dem Sozialamt melden wollen, weil sie befürchten, dann ihre Aufenthaltsbewilligung zu verlieren. Wenn sie sich verschulden oder gar betrieben werden, kommt blitzschnell das Migrationsamt. Diese Leute versuchen deshalb mit allen Mitteln, sich nicht zu verschulden.
Fast die Hälfte aller jährlichen Haftantritte in der Schweiz erfolgen, weil die Betroffenen ihre Bussen oder Geldstrafen nicht begleichen können. Meistens handelt es sich um Schwarzfahren oder Verkehrsbussen. Wird die Teuerung noch mehr Menschen hinter Gitter bringen?
Das könnte der Fall sein. Wir erleben immer wieder, dass Leute, die zu uns kommen, kein Geld für Zug oder Bus haben und deshalb ohne Ticket fahren. Werden sie erwischt, geht es los: Zuerst die Mahnungen, dann werden Ratenzahlungen vereinbart, und schliesslich schaltet sich die Staatsanwaltschaft ein, und die Person muss ihre sogenannte Ersatzfreiheitsstrafe antreten. Wir hatten sogar den Fall, dass eine Person die Raten für die Bussen nicht bezahlen konnte, die Strafe dann absitzen musste und deswegen den Job verloren hat.
Bei der Prämienverbilligung hat der Ständerat den dringend nötigen Entscheid vertagt, den Bundesbeitrag temporär um 30 Prozent zu erhöhen.
Das ist unverständlich, gerade weil die Krankenkassenprämien im Durchschnitt um 6,6 Prozent steigen werden. Aber immerhin will das Parlament den Teuerungsausgleich für Rentnerinnen und Rentner. Zusätzlich braucht es jetzt einen Deckel auf Energiepreisen. Und Härtefallgelder für die Haushalte, in denen wirklich nichts mehr geht.
* siehe auch Die Armut bekämpfen statt die Armen
Rat bei Schulden: Lorenz Bertsch
Lorenz Bertsch (53) war viele Jahre in der Industrie tätig. Seit 10 Jahren arbeitet er für die Caritas. Er ist Leiter der Sozial- und Schuldenberatung der Region Appenzell-St. Gallen, Mitglied der Geschäftsleitung und leitet den Fachbereich Sozialpolitik. (asz)