Demos, Feiern und zwei Helden der Arbeit:

Das war der 1. Mai 2022

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Erstmals seit den zwei Coronajahren fand der 1. Mai wieder richtig auf der Strasse statt: Endlich wieder Livemusik, Geplauder mit alten Bekannten und direkte Reden ganz ohne Bildschirm.

(Fotos: Keystone (1), Donato Caspari / CH Media (1), Unia)

Schweizweit gingen Tausende auf die Strasse, demonstrierten zum SGB-Transpi «Frieden, Freiheit Solidarität». Und das Beste: nach vielen Jahren machte endlich auch die Sonne wieder mit!

In Zürich konnten’s manche kaum erwarten. Am Helvetiaplatz trafen sich die ersten schon früh, um Kaffee «Rebeldia» zu trinken. Und um Maibändel zu kaufen ­(«Komitee oder Gewerkschaftsbund? Oder beide?») und viele Flugblätter entgegenzunehmen. Von roten, rosaroten und ultraroten Gruppen. Und von grünen Parteien, schwarzen Blöcken und lila Kollektiven.

Unia-Präsidentin Vania Alleva war zu Gast in Interlaken und sagte: «Der soziale Fortschritt ist möglich, aber wir müssen dafür kämpfen!» Jetzt brauche es soziale Verbesserungen, etwa im Gastgewerbe oder auf dem Bau. Und sie rief zu internationaler Solidarität auf, insbesondere mit den Opfern des Kriegs in der Ukraine. Hier leiste die Unia mit Hilfslieferungen, Wohnungen und dem Schutz von ukrainischen Arbeitnehmenden einen konkreten Beitrag. In Basel rief Unia-Bauchef Nico Lutz mit Blick auf Krieg und soziale Ungerechtigkeit dazu auf, diese «verrückte Welt» zu ändern!

RISOTTO

«A-, Anti-, Anticapitalista!» schallte es durch Berns alte Gassen. Auf dem Bundesplatz forderte SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard, jetzt müsse die Kaufkraft für die arbeitende Bevölkerung und die Pensionierten verbessert werden, anstatt die Steuern für die Reichsten immer weiter zu senken. Applaus, gute Stimmung und Risotto!

Das Highlight in St. Gallen: Tamara ­Funiciellos Rede, feministisch, klassenkämpferisch. Die Sanierung der AHV auf dem Buckel der Frauen sei eine Frechheit, und linke Politik ohne Klassenkampf nicht viel mehr als «Gärtnern».


1. Mai in Bern:Held der Arbeit I

14 Jahre lang galt in Bern: keine Mai-Feier ohne Wartenweiler. Früher mit Chäppi, heute mit Chappe: Johannes «Hänu» Wartenweiler stellte seit 2008 als ­geschäftsführender Sekretär des Stadtberner ­Gewerkschaftsbunds die 1.-Mai-Feier auf die Beine. Anfang nächste­n Jahres geht er in Pension.

Clemens Studer

Johannes Wartenweiler. (Foto: ZVG)

Die internationale Solidarität steht hoch im Kurs am 1. Mai. Die Aufräum-Solidarität weniger. Wartenweiler: «Beim Aufstellen hatten wir eigentlich immer genügend Helfende. Beim Ab- und Aufräumen weniger.» Wobei sich das mit dem Aufbau in den vergangenen Jahren zusätzlich entspannt hat. Früher bauten die Kolleginnen und Kollegen die Bühne und die Technik noch vielhändig, stundenlang und schweisstreibend auf. Mehr als einmal ging auch etwas schief – und was eben noch zu stehen schien, lag wieder am Boden. Heute kommt der Bühnenbauer mit seinem Transporter und entfaltet die Bühne. Dann kommt die Technikcrew. Ein riesiger Fortschritt. Und der stand ja bereits bei Lenin mit Elektrizität und Sozialismus in engem Zusammenhang.

Keine 1.-Mai-Feier ohne Wartenweiler!

ZURÜCK AUF DEN BUNDESPLATZ. In Wartenweilers Zeit als Berner 1.-Mai-Tätschmeister fiel auch die Rückkehr auf den Bundesplatz. Also den historischen Festplatz, der in den 1990er Jahren in die Zeughausgasse vor das Volkshaus verschoben worden war. Und ganz zuversichtlich machte Wartenweiler den 1. Mai auch in Bern zur Ganztagesveranstaltung. Obwohl der Kampftag der Arbeitenden in Kanton Bern kein offizieller Feiertag ist. Mehr Bands und ein grosses Diskussionszelt gehörten zum Konzept – das allerdings nur drei Jahre überlebte. Wartenweiler: «Nach drei verregneten Veranstaltungen wurde es für die Gewerkschaften zu teuer.» Aber trotzdem gewinnbringend: Jedenfalls für jene gut drei Dutzend Kolleginnen und Kollegen, die einst bei einem besonders verregneten Redenblock kurzum das 6 mal 10 Meter mächtige Zelt vor die Bühne transportierten. Mehr Bestand hatte der in der Amtszeit Wartenweilers vom Vormittag in den Vorabend verschobene Veranstaltungsbeginn.

DIE SACHE MIT DER KASSE. In einer kapitalistischen Welt kommt auch die Arbeitendenbewegung nicht ohne Geld aus. Die Einnahmen des 1.-Mai-Fests sind zwar nicht riesig, aber auch nicht unbescheiden. Das scheint auch jene Diebin oder jener Dieb geahnt zu haben, der diese einmal aus Wartenweilers Auto klaute. Theoretisch hätte die Kamera, die den Bundeshauseingang ­überwacht, zur Aufklärung des Falles beitragen können. Doch – so die Rückmeldung der Bundeshaus-Sicherheitskräfte – sie hatte an jenem 1. Mai einen technischen Ausfall. Kaum auszudenken, wenn just an diesen Tag ein ­Magistrat oder eine Magistratin verschwunden wäre.

Eine solche kam dem 1. Mai dann trotzdem noch abhanden. Und das ging so: Bundesrätin Simonetta Sommaruga hielt vor Jahren eine 1.-Mai-Rede. In dieser empfahl sie den Schweizer Frauen höhere Arbeitspensen, um «die Zuwanderung zu steuern». Das gab ein vernehmliches Grummeln. Seither meidet Sommaruga das 1.-Mai-Rednerpult und besucht am Tag der Arbeit lieber Firmen.

WEITER DABEI. Auf Firmenbesuche umsatteln wird Gewerkschafter Johannes Wartenweiler auch nach seiner Pensionierung nicht. Seine jahrelange Kampagnenerfahrung wird den Fortschrittlichen in Bern weiter zur Verfügung stehen. Fürs Zeichnen und Lesen wird Hänu mehr Zeit haben. Und schliesslich ist er von Haus aus Journalist. Lesen werden wir ihn also auch noch können. Oder mit ihm am nächsten 1. Mai mal ein bisschen länger auf einem der Holzbänke auf dem Bundesplatz sitzen bleiben können. Mit Ordnerwesten rumrennen muss er dann nicht mehr und auch keine Ton-Probleme lösen. Und nur noch auf das eigene Portemonnaie aufpassen.


1. Mai in Zürich:  Held der Arbeit II

Um am 1. Mai zu provozieren, kletterten drei Neonazis am ­Helvetiaplatz auf einen Baukran. Doch sie hatten nicht mit Kranführer Zeqir Binakaj gerechnet.

Jonas Komposch

Kranführer Zeqir Binakaj. (Foto: ZVG)

Der morgendliche Umzug mit 12’000 Menschen setzte sich gerade erst in Bewegung, als schon Aufruhr ausbrach: Drei Vermummte, die beim Helvetiaplatz eine Baustellenabsperrung aufgebrochen hatten, kletterten auf einen Kran. Nun zündeten sie – hoch über den Köpfen der Demonstrierenden – Rauchpetarden und hissten ein Banner. Darauf der Spruch: «Denkst du global, dienst du dem Kapital. Sichere Grenzen, sichere Zukunft.» Die Provokateure waren bald als Mitglieder der Neonazigruppe «Junge Tat» identifiziert. Denn auf der Baustelle hatten sie einen Rucksack liegengelassen – darin persönliche Gegenstände, typisches Propagandamaterial, ein Klappmesser, ein Schlagstock.

«Wenn man Nazis nicht stoppt, werden sie immer dreister.»

«KEINE HEXEREI». Nach ihrer Höhenshow kletterte das Neonazi-Trio entschlossen wieder den Mast runter. Doch auf halber Strecke war plötzlich Schluss mit ihrem Heldenmut. Wohl hatten die drei realisiert, dass sie zurück auf der Erde nicht nur von einer grossen Menge Linker empfangen würden, sondern auch von der Polizei. Also ging’s tifig wieder den Mast hin­auf. Bis es nicht mehr weiterging. Dort ganz oben sassen sie dann in der Sackgasse. Und unten hatte man genug gesehen – die Demo zog weiter.

Nicht aber Kranführer Zeqir Binakaj (57). Er war mit Unia-Co-Regioleiter Serge Gnos für den Demoschutz zuständig. Und Binakaj wusste genau, dass er hier noch gebraucht werden würde. Zu work sagt er: «Es wäre garantiert eskaliert, wenn in dem Moment noch andere Leute zu den Nazis raufgeklettert wären!» Ein fünfzig Meter hoher Kran sei definitiv der falsche Ort für Auseinandersetzungen. Dennoch stand auch für Unia-Gewerkschafter ­Binakaj ausser Frage: das rechtsextreme Banner musste weg!

Daher habe er dem Einsatzleiter der Polizei einen Vorschlag gemacht: «Ihr kümmert euch um die Nazis, ich übernehme das Banner.» Und so stieg ­Binakaj hinauf, sobald sich die Neonazis, nach fast einer Stunde, endlich heruntergewagt und der Polizei ergeben hatten. Es sei «keine Hexerei» gewesen, meint der Kranprofi zu seinem Einsatz, sondern «eine Selbstverständlichkeit». Nazis müsse man nämlich sofort stoppen. Binakaj: «Sonst werden sie immer dreister!» Und was dann passieren könne, habe er schon einmal erlebt, vor vielen Jahren an der Chilbi in Hombrechtikon ZH: «Wir standen am Wurststand, als plötzlich eine Horde Glatzköpfe auftauchte.» Sofort habe sich die Gruppe auf einen Dunkelhäutigen gestürzt. «Danach war überall Blut!» erzählt Binakaj. Und er mahnt: «So weit darf es nie mehr kommen!»

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