Wie sind wir bloss in diese Misere reingerutscht? Ein Erklärungsversuch.

Fünf Hintergründe zum Krieg in der Ukraine

Andreas Rieger

Um ein so gewaltiges Ereignis wie den Ukraine-Krieg auch nur ansatzweise zu verstehen, ­müs­sen wir erst mal einsehen, dass es keine einfachen Erklärungen gibt, schreibt der ehemalige Unia-Co-Chef und work-Kolumnist Andreas Rieger.

IM UNTERGRUND: Zum Schutz vor russischen Angriffen schlafen die Menschen schon seit Wochen im U-Bahn-System der ukrainischen Stadt Charkiw. (Foto: Eddy van Wessel)

Wie sind wir bloss in diesen Krieg reingerutscht? Und warum? Das fragen sich viele in diesen Kriegstagen händeringend. Nur etwas ist klar: Für einen Krieg gibt es nie nur einen Grund. Es ist deshalb auch unsinnig, wenn wir uns wegen Meinungsverschiedenheiten um einen Hauptgrund auch noch bekriegen. Es gibt immer verschiedene Faktoren, die schliesslich zu einem Krieg führen. Sich überlagernde Faktoren, zudem. Um diese zu verstehen, müssen wir in der Geschichte auch zurückblenden. Hier ein Erklärungsversuch in fünf Punkten:

1. Putins Grossrussland

In den letzten Jahren hat sich bei Kremlführer Wladimir Putin und anderen Exponenten des russischen Regimes jene Ideologie einer grossrussischen Mission durchgesetzt, die einige Rechtsex­treme in Russland wie etwa Alexander Dugin schon früher vertraten. Sie greift zurück auf das grossrussische Reich, das die Ukraine, Weissrussland und Russland gemeinsam umfasst hatte. Und zwar tausend Jahre zurück. Neuerdings betätigt sich Putin nämlich auch als «Historiker» und schlägt in seiner Geschichtsschreibung einen grossen Bogen aus den Jahren um 1000 in die Gegenwart.

Die nationalen Bewegungen beim Niedergang des Zarenreichs in der Zeit des Ersten Weltkriegs passen Putin dagegen weniger. Putin beschuldigt den kommunistischen Revolutionär und späteren Regierungschef der Sowjetunion, Wladimir ­Iljitsch Lenin, sogar, Russland «ausgeraubt» zu haben. Der Grund: Lenin anerkannte 1922 die nationale Unabhängigkeit der Ukraine im Rahmen der Union der Sowjetrepubliken. Als die Sowjetunion 1991 zerfiel, hätten die Menschen in der Ukraine plötzlich ausserhalb ihrer «historischen Heimat» gestanden, so Putins Logik. Und sie seien in der Folge unter westlichen Einfluss geraten.

In Putins Logik erscheint die jetzige Okkupation der Ukraine deshalb als konsequent. Er sagt: «Schliesslich sind wir ein Volk» (O-Ton von 2021). Putin hatte deshalb auch die Erwartung, grosse Teile der Ukrainerinnen und Ukrainer würden die russische Armee als «Befreier» empfangen. Doch das Gegenteil ist der Fall.

In seinen Wutreden seit Kriegsbeginn hat Putin seine grossrussische Mission nun noch weiter überhöht: Sie soll jetzt auch eine Alternative bilden zur dekadenten, verweichlichten westlichen Zivilisation.

2. Nationale Unabhängigkeit

Für benachbarte Staaten ist das grossrussische Projekt eine vitale Bedrohung und Anlass für nationale Unabhängigkeitsbestrebungen. Zu solchen Bewegungen kam es historisch immer wieder insbesondere dann, wenn Imperien zerfielen, von Indochina über Afrika bis zur Sowjetunion. Sie ­verlangen alle das Recht auf Selbstbestimmung. Ihr Kampf ist primär ein ­nationaler, oftmals ein demokratischer und manchmal auch ein sozialer. Linke in europäischen Ländern, in denen die nationale Frage schon lange gelöst ist, rümpfen manchmal die Nase über die nationalistischen Züge, die solche Bewegungen annehmen können. Aber es muss uns klar sein: Der Nationalismus von abhängigen Nationen, die für Unabhängigkeit kämpfen, darf nie auf die gleiche Stufe gestellt werden wie der Nationalismus der Imperialmächte. Also hier mit Putins Nationalismus.

3. US-Expansion

Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 war die Aufgabe der Nato eigentlich erfüllt, für die sie zu Beginn des Kalten Kriegs gegründet worden war, ein militärisches Gegengewicht zu bilden zum von der Sowjetunion angeführten Ostblock. Die europäischen Staaten hätten nach dem Zusammenbruch dieses Blocks eine neue Sicherheitsarchitektur schaffen können. Ansatzweise erfolgt dies 1975 mit der Gründung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE). Sie umfasst sämtliche europäischen Länder, einschliesslich Russlands. Aber die Nato blieb als militärisches Bündnis bestehen und nahm 1997 Beitrittsgesuche von Polen, Tschechien und Ungarn gerne an. Für weitere Staaten, die in den folgenden Jahren mehr militärische Sicherheiten suchten, gab es kaum eine Alternative zur Nato. Beitritte folgten vom Baltikum bis nach Albanien. Auch der aktive Neutralitätsstatus, den Finnland nach den Zweiten Weltkrieg gewählt hatte, schien keine Alternative zu sein. Im Resultat bedeutete dies eine Expansion der US-Armee, der stärksten Macht in der Nato. Umso brisanter war in den letzten Jahren die Frage einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine.

4. Neoliberale Schocktherapie

Das wichtigste Angebot des Westens nach dem Ende der Sowjetunion war eine neoliberale Schocktherapie. Der erste Präsident Russlands, Boris Jelzin, sollte innert weniger Monate die staatliche Wirtschaft verscherbeln und alle Märkte öffnen. Die Ausarbeitung einer Verfassung und ein demokratischer Umbau des Staates waren nicht vorgesehen. Der freie Markt würde alles selbst regeln. Jelzin setzte getreulich um, was ihm die westlichen Einflüsterer von der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) vorkauten. Mit desaströsem Resultat für die russische Bevölkerung, wie Ökonom Heiner Flassbeck und Ökonomin Friederike Spiecker auf den Seiten 13–14 analysieren. Ihr Fazit: «Mit den absurden Privatisierungsversuchen, die der Westen orchestriert hat, wurde einer Oligarchie der Weg geebnet, die sich fatal für die Entwicklungschancen der Länder im Osten erwies.» Ein politisches Urteil, das die Rechtsprofessorin Katharina Pistor in ihren Analysen des Ukraine-Kriegs teilt. Sie schreibt: «Indem der Westen dem Kapitalismus den Vorzug vor der Demokratie gab, setzte er Wohlstand und Frieden aufs Spiel» (siehe Literaturliste Seite 14).
Der Lebensstandard breiter Massen in Russland und in der Ukraine sank. Und Präsident Jelzin verlor immer mehr die Kontrolle und setzte schliesslich den Geheimdienstler Putin als seinen Nachfolger ein. Der sollte wieder für eine funktionierende Wirtschaft sorgen.

5. Demokratie-Bewegung

Weltweit haben wir in den letzten Jahrzehnten mächtige Demokratiebewegungen erlebt. Zum ­Beispiel in Weissrussland, wo 2020 eine riesige Bewegung dem autoritären Regime von Machthaber Aljaksandr Lukaschenko ein Ende setzen wollte: Auch Lukaschenko hatte eine Neuauflage der Sowjet­union mit Russland, Ukraine und Weissrussland angestrebt und das Land mit eiserner Hand regiert. Als er im August 2020 zum sechsten (!) Mal wiedergewählt werden wollte, war der Wahlbetrug zu offensichtlich. Die Antwort kam sofort: Generalstreik in den Fabriken, Hunderttausende Demonstrierende sonntags auf den Plätzen der Hauptstadt Minsk und eindrückliche pazifistische Aktionen von Zehntausenden weissgekleideten Frauen. Lukaschenkos Schergen knüppelten alles nieder. Beim russischen Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 stellte er nun auch das weissrussische Staatsgebiet für den russischen Aufmarsch zur Verfügung.

Demokratiebewegungen wie jene in Weissrussland waren für Putin ein Alarmzeichen. Denn es gab in Russland selbst immer wieder Anzeichen für ähnliche Bewegungen, die der Staat aber im Keim ersticken konnte. Wie heute die russischen Antikriegsmanifestationen, an denen bisher Tausende Russinnen und Russen verhaftet wurden.

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