Editorial

Endlich wieder ­anbändeln!

Marie-Josée Kuhn

Marie-Josée Kuhn, Chefredaktorin work

Er ist rot, mit schwarzen oder goldenen Lettern drauf, und manchmal hat er am unteren Rand sogar zwei Wimpel: der 1.-Mai-Bändel. Und wer ihn zu sehr anbändelt, bringt ihn fast nicht mehr los. Denn der kämpferische Bändel haftet zäh und stolz mit seinem leichten, seidenen Glanz. Zu Recht: Seit den ersten Schweizer 1.-Mai-Feiern in den 1890er Jahren gehört er schliesslich dazu.

Einst woben bedürftige Posamentierer aus dem Baselbiet die Seide. Und die Bändel klebten selber noch nicht. Die Bandweber und Bortenwirker steckten damals arg in der Krise. Und die Arbeiterbewegung wollte ihnen unter die Arme greifen: aus Solida­rität. Heute fabrizieren die Posamente ­Firmen, die auch National- und Vereins­bänder herstellen. Zum Beispiel die Firma Adri AG in Biel. Sie liefert alle Maibändel für den Kanton Bern: «Von A bis Z Swissmade». Auch die dafür verwendete Repsseide, ein Stoff mit starken Querrippen, wird hier produziert.

Arbeit und Brot. «Proletarier aller Länder vereinigt euch!»: So stand es 1912 auf dem 1.-Mai-Bändel in Zürich und Bümpliz BE. Das war damals der Kampfruf der internationalen Arbeiterbewegung. Das Abzeichen ist inzwischen ziemlich ausgefranst. Doch seine Morgenröte strahlt immer noch. Fortan folgten die Parolen der politischen Grosswetterlage, wobei sie von Region zu Region variierten: «Kampf der Krise: Arbeit und Brot!», «Gegen Krieg und Faschismus», «Erkämpft eine gerechte Altersversicherung!». «Friede für Vietnam», das war 1968. «Werkplatz vor Finanzplatz» und «Streiken lohnt sich», das war 2001. Immer wieder kam auch die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung: «8 Stunden Arbeit, 8 Stunden Musse, 8 Stunden Schlaf» (1892), «48-Stunden-Woche» (1928) und «5-Tage-Woche» (1958). 2020 schliesslich hiess die Losung des Gewerkschaftsbundes: «Solidarität. Jetzt erst recht!» Doch dann kam Corona. Der 1. Mai fiel ins Digitale. Und sein Bändel damit. Im ersten Coronajahr gab’s ihn als Profilbanner für Facebook und als Mail­signatur.

FRIEDEN. Jetzt aber darf der 1.-Mai-Bändel endlich wieder raus und kleben. Nur, die Parole entspringt einem grausamen Krieg: «Frieden, Freiheit, Solidarität». Frieden ­mussten die Gewerkschaften und die SPS schon oft anmahnen, seit es den Maibändel gibt. Zum Beispiel 1982. Als die Nato neue Atommittelstreckenraketen, die Pershing 2, in Westeuropa aufstellen wollte. Da riefen sie: «Arbeit, Freiheit, Frieden». Oder 1949, nach dem Zweiten Weltkrieg, da hiess es: «Frieden, Aufbau, Sozialismus». Die Geschichte wiederholt sich. Aber nie gleich.

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