Editorial

Krieg macht tot

Marie-Josée Kuhn

Marie-Josée Kuhn, Chefredaktorin work

Plötzlich sind nicht mehr alle Epidemiologen. Plötzlich sind alle Russland- und Ukraine-Expertinnen. In den sozialen Medien und auch sonst. Selbst die, die vor wenigen Tagen noch das Ikea-Logo mit der ukrainischen Flagge verwechselt hätten. Entsprechend unterkomplex ist denn auch der Verarbeitungsgrad des neuen, furchterregenden Kriegs in Europa. Putin = Hitler = Putler. So steht es auf Demo-Plakaten. Und schon trägt Putin ein Hitler-Schnäuzchen. Selbst ein Cover des «Time»-Magazins kursiert dieser Tage, auf dem das Gesicht von Putin zwischen Nase und Kinn mit der entsprechenden Gesichtspartie Hitlers ersetzt wurde. Titel: «Die Geschichte wiederholt sich». Es ist ein Fake-Cover, wie «Time» berichtigen musste. Und eines, das ausser primitivem Provo-Spass nichts bringt. Wie so viele andere Kurzschluss-Polemiken, mit denen sich jetzt viele Luft machen. Richtig, im Falschen gibt es kein Richtiges. Und irgendwie müssen wir uns ja Luft machen nach zwei Jahren Corona-Pandemie mit Angst, Tod und Einschränkungen. Und jetzt kommt auch noch dieser Krieg! Und trotzdem: Die Geschichte wiederholt sich nie genau gleich. Und der Versuch, Hitler zum alleinigen Monster zu machen, war schon bei Hitler nicht aufschlussreich. Sondern ein poli­tisches Ablenkungsmanöver. Denn die, die dem kleinen Österreicher erst auf seinen Thron halfen, wollten nicht genannt werden.

Es geht also doch mit dem humanitären Gedanken!

HINTERGRÜNDE. Genauso verhält es sich mit der Verteufelung Putins als (neuerdings) irres Ungeheuer. Solche psychiatrischen Ferndiagnosen haben den Nachteil, dass sie «den Konflikt eher verdunkeln als erhellen», schreibt work-Autor Oliver Fahrni in seiner lehrreichen Analyse der Kriegslage. Fahrni: «Putin ist fraglos der Aggressor. Doch wie jeder Konflikt hat der Ukraine-Krieg ­Ursachen und eine Vorgeschichte. Wer den Krieg stoppen will, sollte die Hintergründe kennen.» Und die sind alles andere als einfach. Einfach und klar ist nur eines: Krieg ist keine Lösung. Krieg ist zerstörerisch, Krieg macht arm, und Krieg macht tot. Auf allen Seiten.

OHNE PASS. Schon sind Hunderttausende Menschen aus der Ukraine auf der Flucht. Und es könnten noch viel mehr werden. Denn es sieht leider eher nach Eskalation aus denn nach Verhandlungen (Stand Redaktionsschluss am 2. März). Immerhin zeigt sich diesmal auch die bürgerliche Schweiz bereit, Flüchtende «unbürokratisch» aufzunehmen. Wenn’s sein müsse, auch ohne Pass. Dass sagt ausgerechnet die in Migrationsfragen sonst eiserne Justizministerin Karin Keller-Sutter. Anders als Kriegs­flüchtlinge aus Syrien oder Afghanistan, sollen Ukraine­rinnen und Ukrainer auch nach Ablauf der 90-Tage-Frist in der Schweiz bleiben können. Möglichst mit ­Familiennachzug.

Es geht also doch mit dem humanitären Gedanken. Das sind gute News! So hätten wir es gerne auch künftig! Das ist aber auch grausam zynisch: denn offensichtlich geht es nur dann, wenn die «richtigen» Flüchtenden kommen. Die hellhäutig-hellhaarigen. Das wiederum ist ebenso ungeheuerlich wie die Einteilung in «gute» und «böse» Kriege. Es gibt nur eines: Frieden jetzt!

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.