Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz: Wirtschafts­prozess des Jahrzehnts

Abrechnung im heimischen Banker-Milieu

Clemens Studer

Beim Prozess um Ex-Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz geht es um heimliche Geschäftli und grosse Spesen. Der Elefant im Raum ist aber das Bankgeheimnis.

DA WAR SEIEN WELT NOCH IN ORDNUNG: Pierin Vincenz am 11. September 2011 auf dem als «Roter Platz» bekannten Raiffeisenplatz in St. Gallen. Die Möblierung hat die gebürtige St. Galler Künstlerin Pipilotti Rist entworfen. (Foto: Keystone)

Im Theatersaal des Zürcher Volkshauses geht es dieser Wochen immer wieder hoch zu und her. Doch der Andrang der Zuschauenden gilt nicht Ballett-Aufführungen (u. a. «Schwanensee»), sondern dem «Wirtschaftsprozess des Jahrzehnts». Wenn der Theatersaal mit kulturellen Aktivitäten belegt ist, muss die Justiz ihn räumen und zügeln. Zum Beispiel in den Lenin-Saal.

Dort vor Gericht steht dann der ehemalige Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz und Mitangeklagte. Vincenz soll 6 Jahre ins Gefängnis. Chef der Anklage ist ein Staatsanwalt mit dem flamboyanten Namen Marc Jean-Richard-dit-Bressel. Er gibt alles. Denn auch für ihn geht es um viel: Bei den Verfahren gegen Spekulant und Blocher-Geschäftspartner Martin Ebner sah Jean-Richard-dit-Bressel 2003 ebenso alt aus wie 2005 bei jenem gegen SVP-Banker Thomas Matter.

Jetzt im Prozess Vincenz geht es wesentlich um Deals und Mauscheleien, die der Raiffeisen-Bank geschadet haben sollen. Und um Spesen in Striplokalen, die nicht «geschäftlich begründet» gewesen sein sollen. Plus um ein im Beziehungsstreit zerlegtes Hotelzimmer, das auf Raiffeisen-Kosten wiederhergerichtet wurde. Ersteres ist vertrackt und letzteres verflixt. Wer sich über beides unaufgeregt und trotzdem detailreich informieren will, ist mit dem Prozess-Ticker der NZZ bestens bedient (rebrand.ly/nzzticker). Die Zeitung des Schweizer Kapitals weiss, was ihre Klientel mag. Seriös und trotzdem süttig genug.

Pierin Vincenz’ grösster Fehler: Er kritisierte das Bankgeheimnis.

DAS DRAMA

Pierin Vincenz kommt 1956 als Sohn eines späteren CVP-Politikers in Chur zur Welt (siehe Box). Besuchte dort die Primarschule und später das Internat im Kloster Disentis. Wo er bei den Kollegen für gute Stimmung sorgte – und bei den Patres für besorgte Gesichter. Seine Matura machte er schliesslich an der Kanti Chur. Das Jusstudium brach er rasch wieder ab. Besser ging’s an der HSG in St. Gallen. Nach seinem Doktorat in Betriebswirtschaft wechselte Vincenz 1990 zum Schweizerischen Bankverein und in die USA. Später von der Bank als Finanzchef zu einem grossen Storenhersteller. Wenig glamourös und vor allem weit weg von seiner Frau und den neugeborenen Zwillingen in der Schweiz.

Vincenz will zurück. Er heuert 1996 bei der Raiffeisen-Zentrale als Finanzchef an. Drei Jahre später wird er CEO, was damals noch Vorsitzender der Geschäftsleitung heisst. Seine Frau stirbt überraschend an einer Hirnblutung. Vincenz kümmert sich um seine damals siebenjährigen Töchter. Dabei kommt ihm die Raiffeisen mit einem familienverträglichen Arbeitsmodell entgegen. Damals war das noch seltener als heute. Vincenz lernt und fördert in den kommenden Jahren stets Raiffeisen-Kinderkrippen und Teilzeitmodelle.

SCHUB GEBEN

Beruflich gibt Vincenz jetzt Gas. Oder «Schub», wie er sagt. Er zimmert innert weniger Jahre aus dem Verbund von Hunderten Einzelbanken im Land eine Bankengruppe. Aus den «Bauernbänkli» wird die drittgrösste Schweizer Bank hinter UBS und CS. Eigentlich eine formale Unmöglichkeit, weil Raiffeisen Schweiz als Dienstleisterin für die Genossenschaften vor Ort gedacht war und entsprechend konstruiert.

Vincenz reist Woche für Woche bis drei Mal quer durchs Land und reisst die lokalen Genossenschafterinnen und Genossenschafter mit. Er wird zum König der Mehrzweckhallen, erringt die Lufthoheit über die Stehtischchen von Arbon bis Zäziwil. Und er erobert die Städte mit Filialen, die direkt aus der Zentrale geführt werden.

Irgendwann geht es nicht mehr um den Ackerkauf im Entlebuch oder das Einfamilienhaus in Ennenda. Vincenz ist ein Deal-Maker. Kauft andere Banken. Finanziert grosse Firmenübernahmen. Die Bilanzsumme steigt, der Gewinn auch. Die Raiffeisen-Gruppe wird «systemrelevant» – das heisst, sie ist für die Schweiz so wichtig, dass sie in einer Krise von den Steuerzahlenden und der Nationalbank gerettet werden müsste. Genauso wie die UBS und die CS.

Vincenz hätte sich vorstellen können, Showstar zu werden oder Profisportler. So erzählen es Schulkameraden. Unterdessen ist er immerhin auf allen Kanälen präsent. In der Wirtschaftspresse genauso wie in den bunten Heftchen. Zu gut sind seine Geschichten. Und zu gut sind seine Zahlen. Ganz im Unterschied zu den Paradeplatz-Banken. Die verzocken sich, die produzieren Skandale am Laufmeter, die werden verurteilt, die müssen zugeben, kriminell gehandelt zu haben, die müssen Milliardenbussen bezahlen. Und vergolden ihre Manager trotzdem weiterhin in unverschämtem Ausmass. Vinzenz ist das Gegenmodell. Und er inszenierte sich noch so gerne als dieses.

Dabei ist auch er kein Kind von Traurigkeit. Die Autoflotte der Raiffeisen-Zentrale wird edler. Vincenz lässt sich chauffieren. Wenn auch nicht vor die Mehrzweckhallen-Türen im Land. Er geht die letzten Meter jeweils zu Fuss – das kommt besser an. Und Vincenz lässt sich mit dem Heli zur Arbeit fliegen.

ABGESCHLOSSEN

Die von Vincenz verspotteten Eliten der Finanzindustrie sannen schon lange auf Rache. Den geschäftlichen Erfolg hätten sie dem «Bauern-Banker» wohl noch verziehen. Vielleicht sogar den Spott. Den Heli und die Spesen sowieso. Doch dann machte Vincenz seinen wohl grössten Fehler: Er kritisierte das Bankgeheimnis.

Er plädiert für den automatischen Informationsaustausch (AIA). Das Bankgeheimnis zum Schutz der Steuerhinterziehung sei nicht zu halten, sagte er 2012 öffentlich und: «Auch im Inland hat das Bankgeheimnis, wie wir es bis heute kennen, keine Zukunft mehr.» Das stimmte und stimmt. Und das tat weh.

Vincenz hätte gewarnt sein müssen. Mit Verrätern geht das Kapital in diesem Land nicht zimperlich um. Wer die Gnome angreift, wird von den Gnomen abgeschossen. Da spielt auch das sonst heilige Bankgeheimnis keine Rolle mehr. Das musste schon Philipp Hildebrand erleben. Der hatte sich als Nationalbankpräsident mit den Grossbanken angelegt. Und wurde von der SVP deswegen angegriffen. Lange erfolglos. Bis ein Bank-Informatiker einem SVP-Politiker Kontounterlagen von Hildebrand weitergab. Jener reichte sie an Christoph Blocher weiter, und der liess sie in der «Weltwoche» publizieren. Das war in den Jahren 2011 und 2012.

An Hildebrand blieb juristisch nichts hängen. Bei Vincenz landeten Bankunterlagen nicht bei der «Weltwoche», sondern beim Blog «Insideparadeplatz», wo SVP-Bankenprofessor Hans Geiger Dauergast ist.

Was an Vincenz juristisch allenfalls hängenbleibt, wird der Prozess zeigen. Und die Revisionsinstanzen. Nächste Woche geht’s weiter im Volkshaus. Im Theatersaal. Der Lenin-Saal bleibt frei.

Vater Vincenz: Mächtig und skandalerprobt

Der Apfel fällt des öftern nicht weit vom Stamm, das war auch bei Pierin Vincenz so. Sein Vater Gion Clau Vincenz war einst Leiter der bündnerischen Zentralstelle für Milchwirtschaft. 1960 wird er Volg-Geschäftsleiter. Ab 1961 Bündner Bauernpräsident. Ab 1963 CVP-Kantonsrat. Ab 1968 Ständerat.

ABKASSIERT. Vater Vincenz war wirkmächtig von Chur bis nach Bern. Doch dazwischen gab es einen Skandal. Es ging um den Kauf einer Weinhandlung durch Volg, bei der Vincenz senior eine Provision von 500’000 Franken kassiert hatte. Der Verkäufer fühlte sich über den Tisch gezogen. Er schwärzte Vincenz bei der Bundesversammlung an und liess im Kanton Zehntausende Flugblätter verteilen. Vater Vincenz wurde trotzdem wieder in den Ständerat gewählt und zahlte 300’000 Franken der Provision zurück. Strafrechtlich blieb nichts an ihm hängen. Ein paar Monate später trat er 1979 dann doch noch zurück. Wegen einer Steuersache. 1984 wird Vincenz senior Verwaltungsratspräsident der Raiffeisen Schweiz, die damals noch «Schweizer Verband der Raiffeisenkassen» hiess. 2014 stirbt er.

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