Angriff auf die soziale Schweiz: Drei Kampfplätze und ein Ausblick

2022: Was bringt uns das neue Jahr?

Clemens Studer

Die Rechten sind ausser Rand und Band. Sie lancieren Angriff um Angriff auf unsere Renten und Löhne. Und sie planen Raubzug um Raubzug auf die Bundeskasse. 2022 wird eine Herausforderung für die Gewerkschaften.

RENTEN, LÖHNE, STEUERN: Das neue Jahr wird kämpferisch. (Foto: Getty)

Diese Prognose ist nicht mutig: 2022 wird hart und wild. Im Jahr vor den Eidgenössischen Wahlen wollen die rechten Parteien noch die Aufträge abarbeiten, die ihnen ihre Sponsoren aus der Finanz­industrie und den Grosskonzernen erteilt haben. Allgemeine Stoss­richtung: das Kapital mit Steuergeschenken entlasten und die Lohnabhängigen mit höheren Gebühren und Abgaben belasten. Und die Renten in der AHV und in der Pensionskasse kürzen. Den Gewerkschaften und den fortschrittlichen Parteien steht ein kräftezehrendes Politjahr bevor.

Altersvorsorge: Landen wir im rechten Chaos?

Gleich zum Jahresbeginn mussten die Gewerkschaften das Referendum lancieren gegen die sogenannte AHV-Revision, die in Wahrheit eine Vorlage zur Rentenkürzung der Frauen ist. Und im Sinne der rechten Parteien den Auftakt bilden soll zu einem Rentenabbau für alle. Das heisst: Rentenalter 67 bis 70 für alle. Kommt die aktuelle Vorlage durch, sinkt die Medianrente der Frauen um 1200 Franken im Jahr. (Medianrente bedeutet: die eine Hälfte der Renten sind niedriger, die andere höher.) Das heisst: Durch die Rentenaltererhöhung gibt es insgesamt 10 Milliarden Franken we­niger für die Frauen. Und das, obwohl die Rentenlücke zwischen Frauen und Männern bereits heute einen Drittel beträgt. Die Rentenlücke setzte die Lohndiskriminierung der Frauen im Renten­alter nahtlos fort. Denn Frauen verdienen in der Schweiz nach wie vor 20 Prozent weniger als Männer. Selbst der äusserst zurückhaltend rechnende Bund kommt auf eine «unerklärte» Lohndiskriminierung der Frauen von rund 8 Prozent. Also 8 Prozent weniger Lohn für Frauen, nur weil sie keine Männer sind. Würde diese Lohndifferenz endlich beseitigt, so wie es in der Bundesverfassung steht, stünden der AHV auf einen Schlag jährlich über 800 Millionen Franken mehr zur Verfügung. Denn wenn die Frauenlöhne steigen, steigen auch die Beiträge an die AHV. Endlich Lohngleichheit würde quasi gleich viel Geld mehr in die AHV-Kassen bringen, wie die Rechten jetzt den Frauen pro zusätzlich wegnehmen wollen: 1 Milliarde. Das «Gleichberechtigungsargument», das von den Rechten bei der Rentenaltererhöhung immer so gerne angeführt wird, ist keines: Jede Berufsfrau wird in ihrem Arbeitsleben um volle 335’000 Franken Lohn betrogen. Bloss weil sie eine Frau und kein Mann ist. Und jetzt sollen die Frauen auch noch länger arbeiten. Das ist respektlos und unfair!

Für die Rentenlücke ist in erster Linie das Pensionskassen­system verantwortlich. Die diese Woche vom Bund veröffentlichten Zahlen für 2020 zeigen: Die monatliche Medianrente aus der beruflichen Vorsorge betrug bei den Frauen 1167 Franken und bei den Männern 2081 Franken. Bei den Kapitalleistungen aus den Pensionskassen betrug der Medianbetrag für Frauen 78’977 Franken und bei den Männern 199’092 Franken. Zwar sind die Pensions­kassen für alle Normalverdienenden ein schlechtes Geschäft, weil ein erheblicher Anteil des Altersguthabens in den Taschen von Banken und Versicherungen verschwindet. Aber: für die Frauen ist die berufliche Vorsorge noch unvorteilhafter.

Trotzdem plant die rechte Mehrheit im Bundeshaus auch beim BVG einen Angriff auf die Frauenrenten. Bis zu 12 Prozent sollen sie sinken. Auch hier wird ein Referendum nötig sein.

Die AHV muss gestärkt und nicht geschwächt werden. Dem Verfassungsauftrag zur Altersvorsorge wird nämlich schon längst nicht mehr nachgelebt. Ein erster Schritt zu dieser Stärkung ist die SGB-Initiative für eine 13. AHV-Rente. Ein zweiter die neue SGB-Initiative, die bald lanciert wird. Sie will einen Teil des Volksvermögens der Schweizerischen Nationalbank (SNB) in die Volksversicherung AHV umleiten.

Doch zuallererst muss die AHV-Abbau-Vorlage der Rechten abgelehnt werden. Unia-Präsidentin Vania Alleva sagt dazu: «Es geht um Geld, und es geht um Respekt.»

Steuern: Bezahlen bald nur noch die Kleinen?

Kaum etwas hassen die Reichen und Superreichen mehr als die Steuern. Darum «optimieren» sie, wo sie nur können. Und darum lassen sie «ihre» Parteien immer neue Abbauvorlagen ausarbeiten. Wer das kritisiere, betreibe «Klassenkampf», sagen die rechten Politikerinnen und Politiker und meinen, das sei eine Beschimpfung. Dabei ist es die präzise Bezeichnung dafür, was sie seit Jahrzehnten betreiben: steuerpolitischer Klassenkampf von oben. Unterdessen versuchen sie nicht einmal mehr, das zu vertuschen: Eine Truppe aus Wirtschaftsvertretern hat SVP-Finanzminister Ueli Maurer einen Wunschzettel diktiert, der dieser flugs zur offiziellen Strategie erhob – nur noch Löhne, Renten und Konsum sollen besteuert werden. Nachzulesen ist das Bestellbüchlein des Kapitals an Maurer auf der offiziellen Seite des Finanzdepartementes: rebrand.ly/maurersaufgabenheft.
Aktuellstes Steuergeschenk an Konzerne und ihre Aktionärinnen und Aktionäre ist die Abschaffung der Emissionsabgabe (siehe Artikel unden). Werden die Steuerloch-Gräber am 13. Februar an der Urne nicht gestoppt, wollen sie auch die anderen beiden Stempelabgaben abschaffen und damit weitere 2 Milliarden Franken an Kapital-Besitzende und ihre Manager verschenken.

SVP-Maurer weibelt übrigens ganz offen für weitere Steuersenkungen für Best- und Superverdienende. Er will dafür die Mehrwertsteuern für alle erhöhen.

Und noch bevor wir über die Emissionsabgabe abgestimmt haben, lancieren die rechten Parteien einen weiteren Angriff auf die Kassen der Allgemeinheit: Die Verrechnungssteuer soll wegfallen. Und zwar nicht für alle – nur für die Anlegerinnen und Anleger. Während Kleinsparende weiter damit belegt würden. Das ist eine Einladung zur Steuerkriminalität. Offiziell vom Bundesrat geschätzter Steuerausfall: einmalig 1 Milliarde Franken. Und dann Jahr für Jahr 200 bis 800 Milliarden Franken, je nach Zinsniveau.

Bisher stellt die Verrechnungssteuer zumindest halbwegs ­sicher, dass Einkommen aus Obligationen auch bei der Steuer­erklärung angegeben werden. Denn dann wird die Verrechnungssteuer angerechnet. Wer sie für die Reichen abschaffen will, sagt eigentlich nichts anderes als: Steuern bezahlen zur noch die Kleinen. Das ist dreist, aber immerhin ehrlich. Und muss verhindert werden. Darum läuft gleichzeitig mit dem AHV-Referendum auch das Verrechnungssteuer-Referendum.

Wirtschaft: Wer gewinnt, wer verliert?

Unter den wirtschaftlichen Folgen der Seuchenbekämpfung haben besonders jene Lohnabhängigen mit tiefen und mittleren Einkommen gelitten. Und besonders in den Branchen Event, Kultur, Gastronomie und Hotellerie. Hunderttausende mussten über Monate mit 80 Prozent ihres Lohnes auskommen. Dank dem Einsatz der Gewerkschaften und fortschrittlichen Parteien für eine ausgebaute Kurzarbeit und weitere Lohngarantien konnte eine Katastrophe verhindert werden. Gegen den Willen der bürgerlichen Parteien und Finanzminister Ueli Maurer.

Die Corona-Seuche ist ein Booster für die Ungleichheit.

Doch die Lage insbesondere der Geringverdienenden und der jüngeren und älteren Lohnabhängigen bleibt schwierig. Bei den über 60jährigen sind nach wie vor mehr arbeitslos als vor der Krise. Und bei den 15- bis 24jährigen sind weiterhin 25’000 weniger Menschen erwerbstätig als vor Corona. Zugenommen hat in Zeiten von Corona auch die Zahl der unsicheren und prekären Stellen. So stieg 2021 die Zahl der temporär Beschäftigten um mehr als 10 Prozent. Und in der von der Situation mit Corona profitierenden Branchen wie dem Online-Handel und der Logistik nehmen die prekären Arbeitsverhältnisse und Scheinselbständigkeiten weiter zu. Hier braucht es mehr Gesamtarbeitsverträge und besseren gesetzlichen Schutz vor Ausbeutung der Lohnabhängigen.

Ganz anders sieht es ganz oben aus: Die 300 reichsten Menschen in der Schweiz besassen 2021 gemeinsam 821 Milliarden Franken. Das sind 115 Milliarden mehr als im Jahr davor.

Und die Schweizer Reichen sind keine Ausnahme. Weltweit profitierten Reiche und Superreiche enorm von der Coronakrise. Schon seit Jahren werden die Reichen immer reicher und die Armen immer zahlreicher. Die Corona-Seuche ist ein Booster für diese Entwicklung. Dies zeigt eindrücklich die vor wenigen Tagen erschienene Untersuchung der internationalen Nothilfe- und Entwicklungsorganisation Oxfam: Das Vermögen der 10 reichsten Milliardäre hat sich zwischen März 2020 und November 2021 verdoppelt, 160 Millionen Menschen mehr leben in Armut. Oxfam verlangt deshalb weltweit eine höhere Beteiligung der Superreichen an den Kosten der Coronakrise im Speziel­len und am sozialen Ausgleich im Allgemeinen. Also genau das Gegenteil dessen, was die rechte Mehrheit der Schweiz plant.

Ausblick: Was steht auf dem Spiel?

Das noch junge Jahr wird den Gewerkschaften und fortschritt­lichen Parteien viel abverlangen, um die gröbsten Angriffe auf unser Sozialsystem und die ärgsten Raubzüge auf die Kassen der Allgemeinheit abzuwehren. Gelingt es nicht, sehen 99 Prozent der Menschen alt aus. Auf dem Spiel stehen zentrale Pfeiler der sozialen Sicherheit und der steuerpolitischen Gerechtigkeit in diesem Land.

Doch mit Abwehrkämpfen ist es nicht getan. Es braucht auch den Blick nach vorn. Hier sind aktuell und zentral die Initiative für eine AHV-13-Rente und für die von den Gewerkschaften mitgetragene SP-Initiative zur Beschränkung der Krankenkassenprämien auf 10 Prozent des Haushaltseinkommens. Beide sind im parlamentarischen Prozess und werden von rechts bekämpft. Ab dem Frühling wird die Nationalbank-Initiative der Gewerkschaften wichtig.


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