Die Frauen im Gewerkschaftsbund: Historikerin Dore Heim wirft einen Blick zurück und einen nach vorne

«Alle Männer hatten einen Stumpen im Mund und neben der Frau noch eine Freundin im Zentralsekretariat»

Dore Heim

Erst ging’s richtig ­voran mit der Organisation der Frauen in den Gewerkschaften: 1905 wird Margarethe Faas-Hardegger erste SGB-Zentralsekretärin. Doch vier ­Jahre später wurde sie bereits wieder entlassen. Grund: zu frech! 72 Jahre lang herrschten die Kollegen an der Spitze dann ohne ­Kolleginnen. Bis eine kam, die Ruth Dreifuss hiess.

MÄNNERWELT: Abstimmung am 32. SGB-Kongress in Interlaken im Jahre 1953. Zum ersten Mal seit 1930 sprach wieder eine Frau an einem Kongress des SGB. (Foto: Sozialarchiv)

20. März 1993, SGB-Frauenkongress in Basel: die vor zehn Tagen gewählte Bundesrätin Ruth Dreifuss hält triumphal Einzug. Ein historischer Moment, überwältigend! Die Tagesschau berichtet. Was die TV-Zuschauerinnen und -Zuschauer bei all dem Geklatsche und Gejubel im Saal nicht hören, ist das Pfeifkonzert am Tisch meiner VPOD-Kolleginnen. Ich stelle sie empört zur Rede. Edith Zumbühl und Vreni Heer erwidern aufgebracht: «Du hast ja keine Ahnung! Es ist nicht das erste Mal, dass uns Ruth in den Rücken fällt!»

Für mich als damals junge Frauensekretärin der Schweizerischen Journalistinnen- und Journalisten-Union (SJU) waren die VPOD-Kolleginnen feministische Puristinnen, unversöhnlich und moralisch. Ihr Pfeifen eine persönliche Rache an Dreifuss. Heute weiss ich es besser: Schon immer gab es krass unterschiedliche Strategien für die gewerkschaftliche Frauenarbeit.

Sollen wir das Patriarchat in den Gewerkschaften in die Knie zwingen? Das ist die eine. Oder uns an die Spitze der Gewerkschaften vorarbeiten? Das ist die andere. Die erste Strategie klopft nicht an, sondern tritt Türen ein. Die zweite sucht Seilschaften am Berg, auch mit den Kollegen. Sie durchziehen die Geschichte der Frauen im SGB bis heute.

Ich skizziere diese in fünf Phasen. Solche Zäsuren sind immer subjektiv, denn natürlich gab es vor dem Einsetzen meiner Zeitrechnung nicht nichts. Ich mache auch eine subjektive Auswahl der Geschehnisse und Personen. Das hat mit der Quellenlage und mit der zeitlichen Beschränkung meines Referats * zu tun. Und ganz wichtig: Die Geschichte der Frauen in den Gewerkschaften der Schweiz ist nicht geschrieben und mit diesem Referat auch nicht erzählt.

PHASE 1: Aufbruch und Zerschlagung (1905 – 1924)

Die Frauen machen Druck, und ein Mann unterstützt sie: Arbeiterführer Herman Greulich. So kommt es 1905 zur Anstellung der ersten Arbeiterinnensekretärin im SGB: Margarethe Faas-Hardegger. Die Anarcho-Syndikalistin ist 22, Mutter eines Kleinkindes und eines Säuglings und verheiratet mit einem unzuverlässigen, kapriziösen Partner, der sie und die Kinder binnen Kürze verlässt. Dennoch chrampft und wirbelt die junge Frau wie wild. Sie ist dauernd zu Auftritten unterwegs, und ihr rhetorisches Talent macht sie schnell berühmt.

Faas-Hardegger setzt sich leidenschaftlich für die Arbeiterinnen ein, unterstützt etwa den Streik der Tabakarbeiterinnen in Yverdon und ruft zum Boykott des Unternehmens auf. Sie prangert öffentlich die Gewerkschafter an, die mit dem Arbeitgeber gegen die Frauen paktieren. Und sie stellt zwei Zeitungen auf die Beine, ohne ihre Kollegen um Erlaubnis zu fragen («Die Vorkämpferin» und «L’Exploitée»).

Ihr respektfreier Umgang mit den Gremien verschreckt ihre Kollegen im SGB und irgendeinmal auch ihren grossen Förderer Herman Greulich. Innerhalb von vier Jahren erhält Faas-Hardegger dreimal die Kündigung, das dritte Mal definitiv. Ihre Abfindung beträgt mit 112.50 Franken einen halben Monatslohn.

HÜNI UND BLOCH

Auftritt Marie Hüni: Sie ist Faas-Hardeggers Nachfolgerin und wird für das neu geschaffene Arbeiterinnensekretariat im SGB angestellt. Sie erhält aber nicht mehr den Status einer Zentralsekretärin. Ihre Kollegen führen sich ihr gegenüber denn auch auf wie Chefs.

Hünis Schwerpunkt liegt bei der Bildungsarbeit und bei den Textilarbeiterinnen. Und sie setzt sich aktiv für die Auflösung der eigenständigen Strukturen der Frauenarbeit ein. Das ist fatal, weil sie damit auf tragische Weise ihre eigene Arbeitsbasis vernichtet. Der Arbeiterinnenverband wird bereits 1909 aus dem SGB ausgeschlossen und 1917 dann ganz aufgelöst. Ebenfalls 1917 beschliesst der SGB-Kongress, das Arbeiterinnensekretariat abzuschaffen. Die beiden Zeitungen werden 1920 eingestellt. Hüni bleibt noch bis 1924 teilzeitlich im SGB-Sekretariat angestellt. Dann wird sie mit einer Abfindung von 9000 Franken (drei Jahreslöhnen) entlassen.

Jetzt übernimmt die Agitatorin und Publizistin Rosa Bloch-Bollag das Szepter. Sie ist zwar keine Gewerkschaftsaktivistin, aber dank ihr sind die Frauen kurze Zeit das Zentrum jener politischen Bewegung, die 1918 zum Landesstreik führt. Als einzige Frau ist Bloch kurzzeitig Mitglied im «Oltener Ak­tionskomitee» und führt auch die Marktproteste der Frauen gegen die Wucherpreise an. Als erste Frau redet sie im Zürcher Kantons­parlament, dem sie die Forderungen der Frauenproteste darlegt. Als sich die SP 1920 spaltet, wechselt Bloch zur Kommunistischen Partei. Sie ist überzeugt, dass die Gleichstellung der Frauen hier mehr Gewicht hat. Sie sagt: «Das Licht kommt aus dem Osten.» Doch bereits 1922 stirbt Rosa Bloch-Bollag nach einer Kropfoperation.

Die Bekämpfung der Frauenarbeit hat in der Uhrenindustrie und der Druckindustrie Tradition.

PHASE 2: Stillstand und freie Fahrt für die Männer (1924 – Mitte 1970er)

Die Frauen in den Gewerkschaften haben jetzt für ihre Arbeit weder ein nationales Sprachrohr noch ein Arbeiterinnensekretariat. Die Gewerkschaften SEV, VPOD und Smuv publizieren nun halt Frauenseiten in ihren Verbandszeitungen. Dort «verwöhnen» sie die Leserin mit Haushaltstipps, Kosmetika-Ratschlägen, Tiergeschichten und leichten Kulturbeiträgen.

Die aktiven Gewerkschafterinnen mögen sich damit aber nicht abspeisen lassen: Sie verlangen wieder und wieder das Arbeiterinnensekretariat zurück. Zu ihnen gehört auch die Ärztin Marie Huber-Blumberg. Ihr schreibt der langjährige SGB-Sekretär Karl Dürr 1926 in einem Brief: «Ich will absehen von der persönlichen Qualifikation der bisherigen Sekretärinnen, deren Arbeitsleistung an sich ausserordentlich bescheiden war…» Und weiter: «Ich sehe nicht ein, inwiefern etwa eine Frau unter den Frauen eine wirksamere Propaganda entfalten können soll als ein Mann.» Es folgt der Schlüsselsatz in Dürrs unverblümtem Schreiben: «Solange es uns nicht gelingt, in den Industrien, in denen hauptsächlich Frauen beschäftigt sind, zunächst die Männer zu organisieren, ist unsere Mühe bei den Frauen vergebens.»

Zumindest im SGB machen sich Männer also keine Mühe mehr mit der Sache der Frauen. Anfragen des Internationalen Gewerkschaftlichen Arbeiterinnenkomitees zur Lage der Arbeiterinnen in der Schweiz lässt man in der Folge unbeantwortet.

DIE LÜCKENSPRINGERINNEN

Im Frühling 1937 kommt es in zwei Zifferblattfabriken in Biel und La Chaux-de-Fonds zu Streiks. Die Mehrheit der dort Beschäftigten sind Frauen. Die Streiks sind der Auslöser für das sogenannte Friedensabkommen in der Uhrenindustrie. Es legt den Grundstein für die Sozialpartnerschaft. Bessere Arbeitsbedingungen sollen fortan in Gesamtarbeitsverträgen ausgehandelt werden. Nur: In diesen Gesamtarbeitsverträgen kommen die weiblichen Arbeitnehmenden gar nicht vor. Über Jahrzehnte nicht! Obwohl das sogenannte Friedensabkommen überhaupt nur dank ihnen zustande gekommen ist. Das bedeutet: Die Minderstellung der Arbeitnehmerinnen wird nun auch sozialpartnerschaftlich fixiert.

Und dann kommt der Zweite Weltkrieg. Die erwerbstätigen Männer sind immer wieder für Monate im Aktivdienst. Und die Frauen springen in die Lücke: Lehrerinnen, denen nach der Heirat verboten war zu arbeiten, ersetzen ihre Männer in der Schule. Frauen arbeiten wieder im Büro, auf der Bank und ersetzen ihre Ehemänner – auch bei den Basler Verkehrsbetrieben. Diese bekommen nun dank der Arbeit ihrer Ehefrauen 100 Prozent ihres Lohnes – und nicht nur 80 Prozent Erwerbsersatz. Die lückenfüllenden Ehefrauen dagegen erhalten gar nichts.

1946 beteiligt sich der SGB dann doch noch an einer Gewerkschaftsumfrage. Es geht um die Lage der Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Aber die Fragen nach den Forderungen zugunsten der arbeitenden Frauen lässt der Gewerkschaftsbund leer. Es kommt den Sekretären einfach nichts in den Sinn!

DER ERNÄHRERLOHN

Ein reaktionäres Familien- und Frauenbild ist nun auf dem Vormarsch. Der «Ernährerlohn» ist das Ziel aller gewerkschaftlichen Anstrengungen: der Lohn des Mannes sichert die Existenz der Familie. Das Frauenstimm- und -wahlrecht lässt auf sich warten. Der wirtschaftliche Aufschwung hält bis Ende der 1950er Jahre an. Frauen und ausländische Arbeitnehmende werden nun zum Konjunkturpuffer. Ein Phänomen, das sich in den 1970er Jahren wiederholen wird. Läuft’s gut, sind die Frauen und die Migrantinnen und Mi­granten auf dem Schweizer Arbeitsmarkt als schlechtbezahlte Arbeitnehmende ohne Rechte hoch erwünscht. Kriselt es, entlässt man sie und schickt sie nach Hause.

Die Bekämpfung der Frauenarbeit hat sowohl in der Uhrenindustrie wie auch in der Druckindustrie eine lange Tradition: Man fürchtet das Vordringen der Frauen in qualifizierte Tätigkeiten und verwehrt ihnen ­deshalb auch den Zugang zu den Berufsausbildungen (Lithographenbund und Smuv-Sek­tionen). Auch in den Textil- und Lebensmittelbranchen ist die Schlechterstellung der Frauen in den schlechtbezahlten Hilfsarbeiten normal. Leitende Funktionen sind den Männern vorbehalten.

Die Frauenarbeit ist auch vertraglich schlechter entlöhnt: für ausschliesslich von Frauen ausgeübte Tätigkeiten sind tiefere Stundenlöhne vereinbart. Frauen und ausländische Arbeitnehmende werden als latente oder akute Bedrohung für Schweizer Männer-Arbeitsplätze wahrgenommen.

Zwar sieht man, dass Frauenarbeit existentiell notwendig und unvermeidlich ist, aber man will sie in Schach halten. Und tut dies mit einer recht perfiden Strategie: In mehreren Verträgen, die die Metallgewerkschaft Smuv nach dem Zweiten Weltkrieg ­abschliesst, steht, dass das zahlenmässige Verhältnis zwischen Arbeitern und Arbeiterinnen nicht zu Ungunsten der Männer verändert werden dürfe. Ansonsten werde die Gewerkschaft die Durchsetzung der Lohngleichheit für die Frauen verlangen. Was für eine Drohung!

DIE ENTLASSUNGSLISTE

Die technische Entwicklung und die Automatisierung in der Uhren-, Lebensmittel- und Textilindustrie führen zu einer Dequalifizierung der Tätigkeiten. Und zu zunehmend schlechteren Arbeitsbedingungen: schlechte Luftqualität, giftige Säuren, Fliessband, mehr Monotonie und eine Beschleunigung der Arbeitsabläufe. Jetzt nimmt Frauenarbeit zu. Und auch die Beschäftigung von migrantischen Arbeitnehmenden.

Dies dauert bis zur ersten Nachkriegsrezession von 1958: Sie trifft die Frauen und die ausländischen Arbeitnehmenden dann aber mit voller Wucht. Sie werden entlassen. In der Wirtschaftskrise der 1970er Jahre definiert die Smuv-Verhandlungskommission sogar eine Entlassungsrangliste. Diese legt klipp und klar fest, dass Ausländerinnen und Ausländer, kinderlose Schweizerinnen und Ehefrauen schweizerischer Arbeitnehmer zuerst zu entlassen seien.

Die Abwehrhaltung gegenüber den ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern bleibt übrigens bis weit in die 1970er Jahre die offizielle gewerkschaftliche Position.

Trotzdem: Die Frauen sind als Tatsache auf dem Schweizer Arbeitsmarkt ebenso wenig wegzudenken wie die Migrantinnen und Migranten. Sie organisieren sich in all den Jahrzehnten der schmählichen Missachtung durch ihre eigenen Gewerkschaften hartnäckig in regionalen und lokalen Untergruppen. Ihre Tätigkeit wird von den Funktionären selten unterstützt, manchmal auch aktiv behindert. Kollegen, die die Frauen als unerwünschte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt ansehen, gibt es auch bei den Gewerkschaften VHTL und VPOD. Gerade im öffentlichen Dienst (Verkehrsbetriebe und Beamte) wird das Vordringen der Frauen in massiver Weise bekämpft.

Aber der beträchtliche Frauenanteil bei den Mitgliedern und vor allem die Konkurrenz mit dem Kaufmännischen Verband sorgen dafür, dass Forderungen zur Verbesserung der Frauenarbeit immer wieder Thema in den Gremien sind.

DIE ILO-NORM 100

Beide Verbände machen in den 1950er Jahren Druck auf den Bundesrat: Er solle die Norm Nr. 100 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ratifizieren. Diese fordert den gleichen Lohn für Männer und Frauen für gleichwertige Arbeit.

RITA GASSMANN

Treibende Kraft dahinter ist Hermann Leuenberger vom VHTL. Bis 1968 ist er auch SGB-Präsident. Er präsidiert die Ad-hoc-Kommission, die sich ab 1953 mit der ILO–Norm ­befasst und Empfehlungen an den Bundesrat ausarbeitet. Wie einst Herman Greulich pfadet er den Frauen den Weg. Diesmal zurück in den SGB.

1953 und 1957 finden zwei Frauenkonferenzen statt, und 1959 wird die SGB-Frauenkommission gegründet. 1977 wird dank Leuenberger auch im VHTL die erste Zentralsekretärin angestellt: Es ist Rita Gassmann. 1955 kam sie das erste Mal ins Zentralsekretariat, als 20jährige. Und fand es grässlich, wie sie später einer Historikerin zu Protokoll gibt: «Auf dem VHTL-Zentralsekretariat hatten alle Männer einen Stumpen im Mund und alle neben der Frau eine Freundin, die beim VHTL arbeitete.» Nun also kommt sie wieder als Zentralsekretärin, bleibt und wird für Jahrzehnte eine treibende Kraft für die Gleichstellung in den Gewerkschaften.

Die neu gegründete SGB-Frauenkommission tritt behutsam auf, aus Angst, die männlichen Mitglieder zu verprellen. Sie versetzt keine Berge, und sie kann die Weichen der Gewerkschaftspolitik nicht umstellen. Aber die Bedeutung dieser neu etablierten Struktur der Frauenarbeit ermisst sich allein schon an der Tatsache, dass zwischen 1930 und 1953 keine einzige Frau an einem SGB-Kongress geredet hat. Während zweier Jahrzehnte verstummen die Frauen. Im Smuv meldete sich erstmals überhaupt 1970 eine Frau an einem Kongress zu Wort. Aber nun bot die Struktur der Frauenkommission den Gewerkschafterinnen die Möglichkeit, sich zu vernetzen. Und zu reden.

Damit war die Basis für die feministische Gewerkschaftsarbeit der kommenden Jahrzehnte geschaffen. Die ILO-Norm Nr. 100 zu den gleichen Löhnen unterzeichnet der Bundesrat übrigens erst 1972. Und auch nur für die öffentlichrechtlichen Arbeitsverhältnisse.

1970: Am Smuv-Kongress meldet sich eine Frau zu Wort. Zum ersten Mal überhaupt.

PHASE 3: Die Frauen sind da! (1978 – 1993)

Zwischen der neuen Frauenbewegung und der SGB-Frauenkommission herrschen heftige Berührungsängste. Aber dann kommt die entscheidende Wende 1977 doch: mit der Anfrage der Organisation für die Sache der Frau (Ofra), gemeinsam eine Initiative zum Mutterschaftsschutz zu lancieren. Die Gewerkschafterinnen sind dabei, mit ihnen auch die So­zialdemokratische Partei und die Linksparteien Poch und RML. Die Initiative verlangt die volle Deckung aller im Zusammenhang mit der Schwangerschaft und Geburt ­anfallenden Gesundheitskosten, den vollen Lohn­ersatz während des Mutterschaftsurlaubs von mindestens 16 Wochen und einen bezahlten Eltern­urlaub von 9 Monaten!

Die bürgerlichen Parteien und die Grünen sind dagegen. Die Initiative wird am 2. Dezember 1984 mit 84 Prozent Nein-Stimmen verworfen. Trotzdem geht es jetzt vorwärts mit der Sache der Frauen.

AUFTRITT CHRISTIANE BRUNNER

Als erste Gewerkschaft setzt der Smuv 1978 eine Frauensekretärin ein. Es ist die Juristin Christiane Brunner. Sie macht den Job nur etwas mehr als ein Jahr, dann kündigt sie wegen Unvereinbarkeit von Job und Familienpflichten. Und wird stattdessen mit dem Mandat beauftragt, die Smuv-Verhandlungskommissionen zu beraten sowie an Verhandlungen dabei zu sein. Und plötzlich sind Frauenforderungen in den Verhandlungen ein Thema!

1978 machen die VPOD-Frauen ihrer Gewerkschaft ihrerseits Dampf: mit der Gründung einer Frauenkommission. Präsidentin wird die Ökonomin Ruth Dreifuss. Die Kollegen rächen sich am VPOD-Verbandstag von 1979 dafür, dass die Frauen sie vor feste Tatsachen gestellt haben: jeder Auftritt einer Rednerin wird von Gegröle begleitet.

1981 wechselt Dreifuss als Frauensekretärin zum SGB. Erstmals seit 1909 hat dort jetzt wieder eine Frau den Status einer Zentralsekretärin. Und 1982 sorgen die VPOD-Frauen ihrerseits dafür, dass Christiane Brunner VPOD-Präsidentin wird.

BUNDESVERFASSUNG ARTIKEL 4, ABSATZ 2 …

Am 14. Juni 1981 nimmt das Volk den Gegenentwurf zur Gleichstellungsinitiative an. Er wird in der Bundesverfassung verankert. Und ermöglicht es den Frauen, Lohndiskriminierung einzuklagen. Es folgen erste Lohnklagen von städtischen Angestellten und aus dem Unterrichtsbereich.

Tiefere Löhne für die Frauen: das akzeptiert 1990 die Verhandlungsdelegation der Gewerkschaft Druck und Papier (GDP) im Gesamtarbeitsvertrag der Buchbinderei. Und die Gewerkschaftsmitglieder segnen das auch noch ab. 22 GDP-Frauen gehen gegen ihre eigene Gewerkschaft vor Gericht. Ein Novum! Und sie erhalten recht. Am Ende muss der GAV neu ausgehandelt werden.

… UND EIN FRAUENSTREIK

In der Lohngleichheit muss endlich was gehen! Davon sind die Smuv-Frauen im Vallée de Joux überzeugt. Sie haben die Nase voll von der andauernd frauenfeindlichen Politik ihrer Gewerkschaft. Es ist eine lang angestaute Wut. Und sie können Chris­tiane Brunner von der Idee eines Frauenstreiks überzeugen. Die Frauen vom VPOD reagieren erst distanziert, weil das Ganze von den Smuv-Frauen kommt, sind dann aber Feuer und Flamme, weil sie merken, dass die Streikidee eine feministische Dynamik entwickelt, die weit über die Gewerkschaften hinaus­gehen kann.

Und so kommt es, dass am SGB-Kongress von 1990 der Antrag zum Frauenstreik von Varia zum Hauptthema wird. Das erste Mal in der Geschichte der Gewerkschaften. Christiane Brunner setzt ihre ganze Reputation als Gewerkschafterin ein und aufs Spiel. Und es gelingt! Mit dem Frauenstreik vom 14. Juni 1991 wendet sich das Blatt für die Frauen in den Gewerkschaften. Endlich!

PHASE 4: Aufholzeit (1993 – 2004)

Am 10. März 1993 wird Gewerkschafterin Ruth Dreifuss Bundesrätin. Ihrer Wahl vorausgegangen ist die Nichtwahl von Christiane Brunner nach einer widerlichen Schlammschlacht gegen sie als ursprüngliche Bundesratskandidatin. Dieser «Brunner-Skandal» lässt die Schweiz erbeben und gibt der Sache der Frauen zusätzlich Schub. Schliesslich kandidiert Dreifuss als politische «Zwillingsschwester» von Brunner und wird gewählt.

Als Innenministerin ist sie auch für die Sozialversicherungen zuständig. Dort klaffen für die Frauen grosse Gesetzeslücken. Einige können in den folgenden Jahren geschlossen werden. Ein historischer Glücksfall, dass nun alle Frauen dasselbe wollen: In der Schweiz soll endlich die Basis für die Gleichstellung der Frauen gelegt werden.

Und erstmals erhält der SGB 1994 nun auch seine erste Co-Präsidentin. Es ist Frauen-Ikone Christiane Brunner, die sich das Amt mit Vasco Pedrina von der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI) teilt.1996 kommt das Gleichstellungsgesetz – ohne Referendum! Allerdings auch mit Kompromiss beim Kündigungsschutz.

  • 1997 kommt die 10. AHV-Revision. Sie bringt das Rentensplitting anstelle der Ehepaarrente, eine Errungenschaft für die Frauen.
  • 2000 kommt das revidierte Scheidungsrecht mit der Teilung der Guthaben der Altersvorsorge.
  • 2002 kommt die Fristenregelung.
  • 2004 kommt die Mutterschaftsversicherung.

Mit dem Frauenstreik vom 14. Juni 1991 wendet sich das Blatt für die Frauen in den Gewerkschaften.

PHASE 5: Finanzkrise, Rahmenabkommen und nochmals ein Streik (2007 – 2020)

2007 kommt die internationale Finanzkrise. Die gewerkschaftliche, aber auch die politische Dynamik für die Gleichstellung sacken ab. Die Frauensekretärinnen und die Frauenkommissionen können nur kleine Brötchen backen. Ich war in diesen Jahren Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Zürich und ab 2012 wieder Gewerkschaftssekretärin. Diesmal als Zentralsekretärin beim Gewerkschaftsbund. Das nun alles beherrschende Thema der SGB-Politik ist die Altersvorsorge und ist es bis heute.

2015 beschliesst die Schweizerische Nationalbank die Aufhebung des Franken-Mindestkurses gegenüber dem Euro. Die nun alles beherrschende Thematik im SGB wird nebst der Altersvorsorge die Bekämpfung des aufgeblähten Frankens.

Immerhin erfolgt für die Frauen im gleichen Jahr ein weiterer personalpolitischer und epochaler Schritt: Die grösste Schweizer Gewerkschaft Unia wählt Vania Alleva als alleinige und vollamtliche Präsidentin an ihre Spitze. In ihren Verantwortungsbereich gehören so zentrale («Männer»-)Branchen wie der Bau und das Gewerbe. Aber auch die Industrie und der wachsende Dienstleistungssektor.

Und dann kommen ab 2018 die Unruhen um das Rahmenabkommen mit der Europäischen Union. Die Bundesräte ­Ignazio Cassis und Johann Schneider-Ammann bieten der EU-Kommission die Schleifung des Schweizer Lohnschutzes an. Der SGB zieht die Reissleine, schliesslich sind diese flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit eine historische Errungenschaft der Gewerkschaften. Für sie wird diese offene Flanke jetzt zur Existenzfrage, die um jeden Preis geschlossen werden muss. Und die Altersvorsorge und der starke Franken bleiben zentrale Themen. Das bindet Ressourcen.

Doch da kommt die Initiative zum zweiten Frauenstreik. Und wieder kommt sie aus der Westschweiz. Diesmal aber von ausserhalb der Gewerkschaften.

Der zweite Frauenstreik ist die grösste politische Demonstration der neueren Geschichte.

DER ZWEITE STREIK

Die Gewerkschafterinnen greifen den Ball zwar schnell auf. Doch sie stehen unter hohem Druck innerhalb der Gewerkschaften, aber auch im Zusammenspiel mit den Aktivistinnen. Bis praktisch am Morgen des 14. Juni 2019 ist nicht klar, ob auch der zweite Streik gelingen wird. Doch dann strömen eine halbe Million Frauen und Männer auf Strassen und Plätze der Schweiz. Mit grenzenloser Kreativität und unbändiger Macht. Der zweite Frauenstreik wird zur grössten politischen Demonstration der neueren Geschichte.

Und all das, was dieser historische Streik thematisiert, ist seit Beginn der gewerkschaftlichen Organisation von Frauen brennend aktuell:

  • Care-Arbeit: unbezahlt oder schlecht bezahlt. Endlich fair verteilen und gut entlöhnen!
  • Endlich Lohngleichheit!
  • Sexuelle und sexistische Gewalt: Endlich bekämpfen und nicht mehr zulassen!
  • Mutterschaftsschutz, Elternurlaub: Endlich ausbauen!

* Dieser Text ist eine überarbeitete und leicht gekürzte Version des Referats, das Dore Heim am SGB-Frauenkongress vom 12./13. November 2021 hielt.

Die Autorin: Dore Heim

Dore Heim (62) ist Historikerin und Gewerkschafterin und lebt in Zürich. Von 1991 bis 1999 war sie Frauensekretärin bei der Schweizerischen Journalistinnen- und Journalisten-Union (SJU), von 1999 bis 2012 Gleichstellungsbeauftragte der Stadt Zürich und von 2012 bis 2020 SGB-Zentralsekretärin. Im work erschienen ist von ihr auch die Portrait-Serie «Stimmrechtsfrauen» zu 50 Jahren Frauenstimmrecht. Alle Teile der Serie gibt es hier.

1 Kommentar

  1. schö'bu

    schön, diese übersicht! danke, dora heim!

    leider ist es heute noch illusorisch, fairness schaffen zu wollen durch entlöhung jeder stunde arbeit mit der währung einer ‚arbeitsstunde‘.

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