Berlin: Die Pflegenden der grössten Uni-Klinik Europas haben die Nase voll

«Wir fühlen uns verscheissert!»

Daniel Behruzi

Seit Jahren herrscht in Deutschlands ­Spitälern Pflege­notstand. Doch ­passiert ist wenig. Jetzt greifen Mitarbeitende der Charité zu neuen Streikmethoden.

GENUG! Spital-Mitarbeitende protestieren in Berlin gegen ihre miserablen Arbeitsbedingungen. (Foto: Keystone)

Endlich mehr Personal! Und bessere Arbeitsbedingungen auch. Das fordern die Pflegerinnen und Pfleger in Deutschlands Hauptstadt Berlin. Und dafür kämpfen sie: An den öffentlichen Spitälern Berlins spitzt sich ein aussergewöhnlicher Arbeitskampf zu. Vom 23. bis 25. August legten rund 1000 Beschäftigte des Uniklinikums Charité – es ist das grösste Unispital Europas – und des kommunalen Klinikbetreibers Vivantes die Arbeit nieder.

Anja Voigt ist eine, die kämpft. Die Intensivpflegerin aus dem Vivantes-Klinikum Berlin Neukölln ­beschreibt gegenüber work die Si­tuation so: «Die Kolleginnen und Kollegen haben in der Corona-Pandemie viel geleistet und waren hoch belastet. Sie haben erwartet, dass das wertgeschätzt wird. Jetzt fühlen sie sich verscheissert.» Statt die Mitarbeitenden zu entlasten, setzt das Spital-Management auf Konfrontation. Den Arbeitskampf will Vivantes mit allen Mitteln stoppen. Zunächst erwirkte Vivantes am ersten Warnstreiktag vor dem Arbeitsgericht eine einstweilige Verfügung. Schon am zweiten Tag kippten die Richter das Streikverbot allerdings wieder. «Das Streikrecht gilt auch für uns Krankenhausbeschäftigte, das lassen wir uns von niemandem nehmen», so Pflegerin Voigt.

Neuland: Per GAV für mehr Mitarbeitende im Spital sorgen.

MEHR MITGLIEDER

Sollte der dreitägige Warnstreik nicht ausreichen, will die Gewerkschaft Verdi nachlegen und ihre Mitglieder an den betroffenen Kliniken zur Urabstimmung über einen unbefristeten Arbeitskampf aufrufen. Die Zahl der Mitglieder hat sich im Zuge der Auseinandersetzung massiv erhöht: Binnen weniger Monate traten mehr als 1600 Berliner Spital-Mitarbeitende bei.

Tatsächlich will Verdi etwas Besonderes erreichen: nämlich per GAV für mehr Personal im Spital sorgen. Der Vertrag würde auf den Stationen und in den Bereichen des Spitals personelle Sollbesetzungen festschreiben. Falls die Pflegenden mehrfach mit weniger als dem vereinbarten Personal arbeiten müssen, sollen sie zusätzliche freie Tage erhalten. Zudem will die Gewerkschaft erreichen, dass in allen Tochtergesellschaften des Spitals ein ­Gesamtarbeitsvertrag gilt. Damit würden die Löhne etwa für die ausgegliederten Technikerinnen und Putzequipen um mehrere Hundert Euro steigen.

VERANTWORTUNG BEI KLINIKEN

Diese Forderungen will Verdi jetzt mit neuen Streikmethoden durchsetzen. Bei früheren Arbeitsniederlegungen wurden die Stationen lediglich auf die Wochenend­besetzung heruntergefahren. Nun aber haben sich die Streikenden zum Ziel gesetzt, Betten und Stationen komplett zu «schliessen». Der Spitalleitung wird sieben Tage im voraus mitgeteilt, welche Bereiche wie stark betroffen sein werden. Verdi-Sekretär Tim Graumann erklärt: «Die Klinikleitungen sind dann in der Verantwortung, die Belegung entsprechend herunterzufahren, um eine Gefährdung der ­Patientinnen und Patienten auszuschliessen.» So entgehen die Pflegenden dem sonst üblichen Dilemma, sich zwischen ihrem Streikrecht und der Patientenversorgung entscheiden zu müssen. Obwohl einige Spitalmanagerinnen und Chefärzte trotzdem versuchten, die Betten zu belegen, konnten im Warnstreik auf diese Weise mehr als zehn Stationen und viele weitere Betten stillgelegt werden.

Besonderen Druck erzeugt die Berliner Spitalbewegung zudem dadurch, dass sie die Landesregierung aus SPD, Grünen und Linkspartei in die Verantwortung nimmt. Als ­Eigentümerin müsse das Land die öffentlichen Spitäler anweisen, den geforderten Tarifvertrag mit Verdi auszuhandeln. Geschieht das nicht, will die Gewerkschaft zum unbefristeten Erzwingungsstreik aufrufen. Das zu einem sicher nicht ganz zufälligen Zeitpunkt: Am 26. September wird nicht nur der Deutsche Bundestag neu gewählt, sondern auch das Berliner Abgeordnetenhaus.

Update: Am 6. September beschlossen die Beschäftigten der Charité und von Vivantes den unbefristeten Streik.

Verdi: Landes­weiter Kampf für mehr Personal

Verdi hat in den vergangenen ­Jahren an insgesamt 17 Grossspitälern in Deutschland Vereinbarungen für Entlastung durch­gesetzt.

MITSPRACHE. So zum Beispiel an der Uniklinik Mainz, wo die Pflege­teams die Sollbesetzungen Ende 2019 selbst mitausgehandelt ­haben. Anästhesiepfleger und Verdi-Aktivist Sebastian Tensing erklärt: «Das geht auch gar nicht anders, denn nur die Leute vor Ort wissen, wie die Situation ist und was sie brauchen.»

Wird die vereinbarte Personal­besetzung unterschritten, muss das Spital den Mitarbeitenden zusätzliche Freizeit gutschreiben. Das wirkt nicht nur entlastend, sondern erhöht auch den Druck auf die Klinikleitung, mehr Personal einzustellen, um nicht immer mehr Freizeitausgleich gewähren zu müssen.

Weitere Informationen: klinikpersonal-entlasten.verdi.de

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