Sensationelles Urteil des Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg:

Rechte der Arbeitnehmenden sind wichtiger als Unternehmerfreiheit

Ralph Hug

Ist endlich Schluss mit gewerkschaftsfeindlichen Urteilen in der EU? Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat einen wegweisenden Entscheid getroffen. Er schützt die ­Ar­beitnehmerrechte klar.

UNTER GEWERKSCHAFTSFEINDLICHER FLAGGE: Die Firma Holship verklagte eine norwegische Transportgewerkschaft. (Foto: ZVG)

Schauplatz Norwegen: Im Hafen von Drammen in der Nähe von Oslo wollte die Firma Holship Norge SA vier Dockarbeiter anstellen, um ihre Schiffe be- und entladen zu lassen. Aber: Sie wollte die Arbeiter ausserhalb des geltenden Gesamtarbeitsvertrags (GAV) beschäftigen. Und sie schlechter bezahlen. Als die Transportgewerkschaft davon erfuhr, beschloss sie einen Boykott der Holship-Schiffe: Niemand mehr im ganzen Hafen sollte sich an den Löscharbeiten von Schiffen dieser Firma beteiligen.

Dadurch sollte Holship gezwungen werden, sich an den GAV zu halten und nur Leute anzustellen, die dem Vertrag unterstehen. Dieser gilt für alle Häfen im Land und ist eine Errungenschaft der norwegischen Gewerkschaftsbewegung seit 1940. Vorher hatten in den Docks unwürdige Zustände geherrscht. Die schwer arbeitenden Hafenarbeiter wurden wie Tagelöhner behandelt und mit miesesten Löhnen abgespeist. Der GAV beendete diese Missstände.

Seit 1940 gilt für alle Hafenarbeiter in Norwegen ein GAV.

PROZESS-STAFETTE

Doch die Firma Holship verklagte die Transportgewerkschaft. Der Boykott sei rechtswidrig. 2016 kam der Streit vor das oberste Gericht Norwegens. Die Richterinnen und Richter nahmen die Reederei in Schutz: Durch den Boykott werde die Firma in ihrem Grundrecht auf Wirtschaftsfreiheit zu stark beeinträchtigt. Pikant: Zuvor hatte das Gericht noch die Meinung des EFTA-Gerichtshofs eingeholt. Bekanntlich ist Norwegen, genau wie die Schweiz, nicht Mitglied der EU, sondern der Freihandelszone EFTA. Das EFTA-Gericht nahm ebenfalls Holship in Schutz. Es fand sogar, ein Boykott tangiere nicht nur die Freiheit der Firma, sondern schmälere auch noch die Rechte der übrigen Holship-Büezer, die in Drammen nicht arbeiten könnten.

Seit Jahren war­teten Rechtskundige deshalb gespannt auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR). Die norwegische Transportgewerkschaft hatte diese Höchstinstanz ange­rufen. Der EGMR wacht über die Einhaltung der Menschenrechtskonvention. Seine Urteile sind verbindlich, auch in der Schweiz. Der britische Rechtsexperte John Hendy von der Universität Bristol unterstreicht die Bedeutung des Streiks. Er sagt: «Der Holship-Fall ist einer der bislang wichtigsten für das europäische Arbeitsrecht.» Es gehe um die Grundsatzfrage, ob ein Unternehmen in Europa unter Berufung auf die Wirtschaftsfreiheit Kollektivverträge einfach unterlaufen könne oder nicht.

Seit dem 10. Juni 2021 ist die Sache klar: Der Boykott der Gewerkschaft ist legal, fand der EGMR abschliessend. Die Begründung hat es in sich: Die Wirtschaftsfreiheit sei kein Grundrecht, das dem Grundrecht auf Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und damit den Arbeitnehmerrechten vorginge. In der Güterabwägung dürften die ­wesentlichen Elemente der Vereinigungsfreiheit nicht derart beeinträchtigt werden, dass sie substanzlos würden. Genau dies wäre aber die Konsequenz, wenn es Firmen wie Holship erlaubt wäre, einen GAV einfach so zu unterlaufen.

LERNT DAS EU-GERICHT?

Damit hat der EGMR offensichtlich eine Bombe platzen lassen. Denn das Urteil dürfte Auswirkungen haben, vor allem auf den EU-Gerichtshof (EuGH). Dieser stellt die Arbeitnehmerrechte in seinen Urteilen bisher gerne hintan. Genau dies spielte in der Debatte um das Rahmenabkommen mit der EU eine wichtige Rolle. Dreht jetzt also der Wind? Beim Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) jubelt man jedenfalls. Endlich habe der EGMR zugunsten der Arbeitnehmenden und ihres Grundrechts auf Streik entschieden.

Für die EGB-Sekretärin Isabelle Schömann steht das Urteil einer einseitigen Bevorzugung von Unternehmensinteressen entgegen: «Das ist ein wichtiger Schritt hin zu einem faireren Gleichgewicht bei der Abwägung von Grundrechten.» Auch Luca Cirigliano vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund zeigt sich erfreut: «Zum Glück gibt es den EGMR als Gegengewicht zum EuGH!»

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