SVP reisst einen Stadt-Land-Graben-Streit vom Zaun:

Die Geldsäcke wollen wieder den Landsturm aufbieten

Clemens Studer

Die Schweizer ­Bauern beziehungsweise «das Land» sind seit über einem Jahrhundert verlässliche Ver­bündete des Kapitals gegen die Lohn­abhängigen. Jetzt lanciert die SVP eine neue Anti-Städte-Kampagne. Nichts Neues unter dem Sünneli. Oder doch?

(Illustration: Ruedi Widmer)

Samstag, 24. November 1917, Restaurant Bierhübeli, Bern: Bauernfunktionär Rudolf Minger (Hemd, Krawatte, Tschopen) redet sich vor den Abgeordneten des bernischen Verbands landwirtschaftlicher Genossenschaften in Rage. Die damals herrschenden Freisinnigen bezeichnet er als «Geldsäcke» und die SP-Führer als «rote Bonzen».

Sonntag, 1. August 2021, vor irgendeinem Fenster: Auftritt Marco Chiesa (Bauernhemmli), das ist aktuell der Präsident der SVP, bis vor kurzem Heimleiter, jetzt Treuhänder. Er redet sich nicht in Rage, sondern scheint aufzusagen, was und wie ihm auf­getragen. Mit Kuppelwörtern, die Deutschlernende üblicherweise auch im fortgeschrittenen Stadium des ­Studiums noch verzweifeln lassen: «Luxus-Linke», «Bevormunder-Grüne», «Schmarotzer-Politik».

Der eine Auftritt ist historisch. Der andere notorisch. Und doch haben sie mehr Gemeinsamkeiten, als es auf den ersten Blick scheint.

Die Blochersche Kampfmaschine braucht neue Sündenböcke: Neuerdings sind es die Städterinnen und Städter.

BLICK ZURÜCK NACH VORN I

Was trieb Rudolf («Rüedu») Minger, der später Bundesrat werden sollte, damals die Zornesröte ins Gesicht? ­Einerseits die Freisinnigen, die in den vorhergehenden Wahlen die Bauernvertreter nicht in ausreichendem Mass unterstützt hatten. Und zweitens die Arbeiterinnen, die sich gegen die Kriegsgewinnlerei der Bauern wehrten. In zahlreichen Städten kam es zu den sogenannten Kartoffel-Unruhen (rebrand.ly/kartoffel-unruhen). Denn die Bauern nutzten die Lebensmittelknappheit während des Ersten Weltkrieges schamlos aus und erhöhten die Preise für Grundnahrungsmittel so unverfroren, dass in vielen Büezer-Haushalten Hunger herrschte. 1916 begannen sich Proletarierinnen zu wehren. Sie stürmten die Märkte und forderten die Bäuerinnen auf, die Preise zu senken. Durchaus auch mal handgreiflich. Und wenn alles nichts half, verkauften sie die Lebensmittel gleich selbst. Vor allem aber erreichten sie, dass die (freisinnig dominierten) Behörden ein Auge auf die Preise hielten und die übelsten Exzesse eindämmten.

GEKAUFT UND EINGEBUNDEN I

Doch die Doppelwut von Politiker, Bauer und Offizier Minger halbiert sich rasch. Er schlägt den freisinnigen «Geldsäcken» einen Deal vor: ihr schaut zu unseren Einkommen – und wir helfen euch dafür gegen die Arbeiterbewegung. Folgerichtig drischt Minger zwei Monate nach seinem Bierhübeli-Auftritt bei der offiziellen Gründung der Bauern-, Gewerbe- und Bürgerpartei (BGB), deren erster Nationalrat er werden sollte, nur noch auf «die Roten» ein. Bauern gegen Büezer. Land gegen Stadt. Genau gleich wie 104 Jahre später SVP-Präsident Marco Chiesa.

Minger tut es verbal. Handfester zeigt sich die neue politische Verbandelung einige Monate später beim Landesstreik. Hier schossen Bauern-Soldaten unter dem Kommando von deutschfröntlerischen Offizieren auf Arbeiter. Und gründeten Bürgerwehren gegen die Streikenden. Das war dem Kapital einiges wert: Die Todesschützen von Grenchen erhalten für ihre Schüsse in den Rücken von Arbeitern «Ehrensold». Und die Bauernschaft eine bis heute andauernde Rundumversorgung (Subventionen usw.) und den Status einer heiligen Kuh. Zudem bekommt die BGB (heute SVP) 1929 ihren ersten Bundesrat, eben Ruedi Minger. Das war lange vor der wesentlich wählerstärkeren SP.

DER UMBAU

Die Überhöhung der Bauersame erreicht im Zweiten Weltkrieg und in der Nachkriegszeit neue Höhepunkte. Die BGB ist stabiler Teil des Bürgerblocks und kümmert sich vor allem um die Sicherung der Bauernpfründe. Ansonsten stimmt sie brav mit FDP und CVP. Der Wähleranteil dümpelt bei rund 11 Prozent. 1971 versucht die BGB die Öffnung, die Demokratischen Parteien Graubünden und Glarus treten bei, der Name wird in Schweizerische Volkspartei (SVP) geändert. Das Parteiprogramm breiter. Der Einfluss der eher sozial-liberal ausgerichteten Bündner und Glarner zeigt sich. Sehr zum Ärger der Zürcher Kantonalpartei, in der 1977 ein gewisser Christoph Blocher die Macht übernimmt, die Berner «Parteikollegen» vor sich hertreibt – und die nationale Partei schliesslich via Statthalter wie etwa dem heutigen Bundesrat Ueli Maurer übernimmt.

Die Blocheristen gründen zwischen 1991 und 2001 zwölf neue Kantonalparteien. Die nationale Parteiorganisation wird massiv ausgebaut. Die kleinen Rechtsaussenparteien werden geschluckt. Blocher zahlt und befiehlt. Er erteilt «Aufträge». Der Apparat führt aus. Die Wahl- und Abstimmungskampagnen werden jetzt national ausgerollt. Geld spielte keine Rolle. Ebenso wenig wie die Bäuerinnen und Bauern. Sie dienen als Staffage für die Dichtung von der «echten Schweiz». Dies, während die reale Schweiz ihr Geld schon längst als Industrieland verdient und mit einem Bankensektor, der weltweit bei Potentaten, Diktatoren und Steuerbetrügern als sicherer Hafen geschätzt wird.

GEKAUFT UND EINGEBUNDEN II

Unter Blocher entwickelt sich die SVP zur neoliberalen Partei der Grossfinanz und der Globalisierungsgewinner. Und verkauft sich doch als Ver­treterin des «kleinen Mannes» (etwas weniger der «kleinen Frau»). Und die Blocher-Partei setzt auf Sündenbock-Politik: die «Ausländer», die «Sozial­schmarotzer», die «Heimatmüden», die «Linken und Netten», die «Emanzen» und so weiter. Zieht der eine Sündenbock nicht mehr so gut, kommt der nächste dran. Gleichzeitig unterstützt die SVP jeden Sozialabbau – ausser bei den Bauern. Über die Bauersame hält sie ­­ihre schützende Hand. So werden Milliarden von den Steuerzahlenden und Konsumierenden in die Landwirtschaft umgeleitet.

BLICK ZURÜCK UND NACH VORN II

In den vergangenen Jahren haben sich die bisherigen SVP-Sündenböcke ein bisschen abgeschliffen. Doch die Blochersche Kampfmaschine braucht immer neue Schuldige, sonst kommt sie ins Stottern. Darum sucht die SVP jetzt den Schulterschluss mit den «Impf-Skeptikern». Und schiesst sich auf die Städterinnen und Städter ein. Denn die sind traumatisch für die Rechtsnationalisten: fortschrittlich und multikulturell. Und vor allem: die SVP bringt dort kaum mehr ein Bein auf den Boden. Trotz allen Bemühungen. Das erklärt Chiesas 1.-August-Rede gegen die Städte. Übrigens: Zuständig für die Anti-Stadt-Kampagne der SVP ist der Zürcher Nationalrat Thomas Matter, Millionenerbe und Banker. Das Kapital will wieder einmal den Landsturm aufbieten.

Transferzahlungen: Wer zahlt wirklich?

Schweizerinnen und Schweizer ­bezahlen Rekordpreise für ­Lebensmittel. Zugleich fliessen ­Milliarden in die Landwirtschaft. Und in die ländliche Infrastruktur. Viele SVP-Hochburgen gäbe es ohne Transferzahlungen schon gar nicht mehr. Trotzdem versuchen SVPler jetzt, die Erzählung zu drehen. Das Land finanziere die Städte, ­behauptet die Blocher-Partei.

Die detaillierten Zahlen und Fakten ­lesen Sie im nächsten work.

2 Kommentare

  1. Peter Messerli

    Wie wahr und gut doch der Kommentar recherchiert ist. Was würde mein ehemaliger Nachbar Ruedi Minger sagen: En cas de guerre sonner deux fois…Wann merken es die Leute welches Spiel mit ihnen getrieben wird.

  2. Eriq Aeschlima

    Warum soll es in der Schweiz anders sein als im Rest der Welt. In den USA bezahlen wir massive mehr für Zucker um die Subventionen der reichen, grossen Zuckeranbauer nicht zu gefärden. Die armen Bauer in Mittelamerika, die nur Zuckerrohr anbauen können haben das Nachsehen.

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