Ex-SGB-Chef und SP-Ständerat Paul Rechsteiner erklärt:

«Der Absturz dieses Rahmen­abkommens war programmiert»

Paul Rechsteiner

Er war es, der im Sommer 2018 die Notbremse zog: Paul Rechsteiner, damals oberster Gewerkschafter und Ständerat. Denn in den Verhandlungen mit der EU um ein Rahmenabkommen sollte der Schweizer Lohnschutz geopfert werden. Jetzt blickt er zurück und nach vorne.

SCHMATZ: Der vormalige EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker küsste vor rund 6 Jahren die damalige Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga. Ganz in Ehren. Trotzdem instrumentalisieren ­Nationalisten das Bild seither als angeblichen Beweis für Schweizer Willfährigkeit. (Foto: Keystone)

Seit dem Entscheid des Bundesrats, die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen zu beenden, erscheinen manche verwirrt. Zum Beispiel publizierte der «Blick» ein Chat-Protokoll, in dem Nationalrätinnen und Nationalräte aus der aussenpolitischen Kommission mit dem Wirtschaftslobbyisten und CDU-Europaabgeordneten Andreas Schwab kungeln. Schwab ist als Leiter der Schweiz-Delegation im EU-Parlament die Speerspitze der harten EU-Position gegen den Schweizer Lohnschutz (siehe auch «Riegers Europa», Seite 6). Doch die Schwächung des Lohnschutzes widerspricht den Aufträgen des Parlaments aus dem Jahr 2019. Es verlangte, den Lohnschutz zu verteidigen. Konkret: Er muss auf dem heutigen Stand ­sichergestellt und nach Bedarf weiterentwickelt werden können. Der Entscheid des Bundesrates, das Rahmenabkommen fallenzulassen, entspricht also genau dieser Logik: Wenn der Lohnschutz mit dem Rahmenabkommen nicht sichergestellt werden kann, hat dieses keine Perspektive.

Ex-SGB-Präsident und SP-Ständerat Paul Rechsteiner. (Foto: Keystone)

ÖFFNUNG MIT SCHUTZ

In Zeiten der Verwirrung lohnt es sich immerhin, etwas weiter zurückzublenden. Nach dem Fiasko des EWR (1992) waren die bilateralen Verträge (1998–2000) ein Durchbruch im Verhältnis zur EU. Kernvertrag der Bilateralen ist die Personenfreizügigkeit. Entscheidend für die Zustimmung in der Volksabstimmung waren neue Massnahmen zum Schutz der Löhne, die in der Schweiz zuvor undenkbar gewesen waren. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund hatte sie am Davoser Kongress 1998 als Bedingung dafür gefordert, die Bilateralen mitzutragen: «Nein, wenn nicht!»

Auch damals hatten die Wirtschaftsverbände, die bürgerlichen Parteien und der Bundesrat keine Freude an den neuen Regeln, zumal sie der in den 1990er Jahren anrollenden ideologischen Welle von Deregulierung und Liberalisierung diametral widersprachen. Und sich die rot-grüne Regierung in Deutschland gleichzeitig ­daranmachte, die Lohnregeln aufzuweichen und einen Tieflohnsektor zu forcieren. Die staatstragenden bürgerlichen Kräfte akzeptierten aber den neuen Lohnschutz mit Blick auf die Volksabstimmung über die bilateralen Verträge.

Das Rezept «wirtschaftliche Öffnung, verbunden mit sozialem Schutz» war erfolgreich. Damals, im Jahr 2000, wie auch später bei den verschiedenen Erweiterungsrunden der Bilateralen.

Wichtig ist: Der neue schweizerische Lohnschutz war und ist nichtdiskriminierend ausgestaltet, so wie es das Abkommen über die Personenfreizügigkeit (FZA) verlangt. Er fand und findet auf Arbeitnehmende aus der EU genauso Anwendung wie auf Schweizer Lohnabhängige. Keine EU-Instanz hatte damals gegen den schweizerischen Lohnschutz etwas einzuwenden.

Für die EU-Kommission sind die Gewinne der Entsendefirmen wichtiger als der Lohnschutz der Lohnabhängigen.

DER KERN DES KONFLIKTS

Später änderte sich das. Nicht in der Schweiz, aber in der EU. 2006 wurde mit der Bolkestein-Richtlinie, benannt nach dem neoliberalen holländischen EU-Kommissar Frits Bolkestein, die Prio­rität der Dienstleistungsfreiheit verankert. 2008 folgte der Europäische Gerichtshof mit Urteilen, die zur Förderung der Dienstleistungsfreiheit bei Entsendungen (Firmen, die in einem anderen Land Arbeiten verrichten) neu die Arbeitsbedingungen des Herkunftslandes als massgebend erklärten.

Das aber ist exakt das Gegenteil von dem, was der schweizerische Lohnschutz verlangt: Massgebend sind, wenn in der Schweiz gearbeitet wird, die Arbeitsbedingungen in der Schweiz, also nicht jene im Herkunftsland, sondern jene vor Ort. Denn die Menschen leben von den Löhnen vor Ort. In der Schweiz von Schweizer Löhnen.

Seit dieser Zeit kritisiert die EU-Kommission den Schweizer Lohnschutz. Weil für sie die Geschäftsmöglichkeiten für Entsendefirmen aus der EU vor den Löhnen und Arbeitsbedingungen der Arbeitnehmenden rangieren. Deshalb stören die wirksamen Lohnkontrollen in der Schweiz die EU-Kommission. Zugespitzt: Für die EU-Kommission sind die Gewinnmöglichkeiten der Entsendefirmen, auch wenn sie Regeln brechen, wichtiger als der Lohnschutz für die Lohnabhängigen. Das ist der Kern des Konflikts.

Die Gewerkschaften aber können und werden eine Schwächung des Lohnschutzes keinesfalls akzeptieren. Für die Menschen mit tiefen und mittleren Einkommen geht es um vitale Interessen. Und es geht dabei nicht nur um eine schweizerische, sondern auch um eine europäische Auseinander­setzung.

BALZARETTIS VERRAT

Vor diesem Hintergrund zeigt sich, was bei den Verhandlungen über das Rahmenabkommen schiefgelaufen ist: Im Juni 2018 signalisierte der damalige Chefunterhändler der Schweiz, Roberto Balzaretti, der EU die Bereitschaft, beim Lohnschutz nachzugeben, dies gegen die «roten Linien» des Bundesrats. In seinem Gefolge stellten die beiden FDP-Bundesräte Ignazio Cassis und Johann Schneider-Ammann die flankierenden Massnahmen öffentlich in Frage. Der Bundesrat bekräftigte nach dem Protest der Gewerkschaften den Lohnschutz als «rote Linie». Trotzdem verhandelte Balzaretti gegen das Mandat weiter.

Er übernahm beim Lohnschutz schliesslich die Positionen der EU-Kommission. Und eröffnete damit den Kampf gegen die schweizerischen Gewerkschaften. Mit einer solchen Verhandlungsführung müssen wir uns auch nicht wundern, dass die EU-Kommission bei diesem Thema hart blieb und sich in der Folge nicht mehr bewegte. Damit war der Absturz des Projekts programmiert. Einen derartigen Vertrag konnte der Bundesrat nicht akzeptieren.

Das Fazit: Die neoliberalen Feinde des Lohnschutzes in der EU und in der Schweiz sind zwar imstande, sich über die Köpfe der Betroffenen hinweg zu einigen. Politisch zum Fliegen kommt das Resultat in einer direkten Demokratie dennoch nicht.

Chefunterhändler Balza­retti übernahm die Positionen der EU-Kommission – gegen die «roten Linien» des Bundesrats.

UND JETZT?

Die Zukunft ist nie vorhersehbar. Ein paar Überlegungen mögen immerhin weiterhelfen: Wesentlich ist zunächst, dass die heutigen Verträge weiterlaufen und gelten. Daran ändert sich auch nichts, wenn der Bundesrat unzumutbare Vorschläge der EU-Kommission nicht übernimmt und unterschreibt.

Sodann ist nicht nur die Schweiz in ständiger Bewegung, sondern auch die EU. Die Forderungen der EU-Kommission gegenüber der Schweiz zum Lohnschutz wurden 2019 im Europäischen Parlament nur noch mit knapper Mehrheit gestützt (330 zu 302 Stimmen).
In der EU spielen in diesen Fragen erfahrungsgemäss ohnehin die Deutschen eine entscheidende Rolle. Falls die Grünen im kommenden Herbst die deutschen Wahlen gewinnen, kann sich in diesen Fragen in den nächsten Jahren alles ändern. Definiert werden die Positionen dann möglicherweise nicht mehr von gewerkschaftsfeind­lichen Hardlinern, sondern von Kräften, die der sozialen Frage eine andere Bedeutung beimessen.

Überhaupt spricht vieles dafür, dass nicht nur die ökologischen, sondern auch die sozialen Anliegen in Zukunft wieder einen grösseren Stellenwert bekommen werden und müssen. Dies gilt für die EU wie für die Schweiz. Die Entwicklung in den USA, wo Präsident Joe Biden gerade dabei ist, das Trumpsche Steuer sozial herumzureissen, ist ein Fingerzeig in diese Richtung.

Die Linke hat jedenfalls die Aufgabe, die sozialen Interessen zu verteidigen und weiterzuentwickeln. Einer wachen Linken, die sich nicht überschätzt, aber vor allem auch nicht unterschätzt, stehen interessante Zeiten bevor.

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