Im zweiten Pandemiejahr liessen sich die Gewerkschaften die Strasse nicht mehr nehmen:

So war der 1. Mai: Kreativ und kämpferisch

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Schon zum zweiten Mal fand der 1. Mai unter Pandemiebedingungen statt. Doch die Lohnabhängigen lassen sich die Strasse nicht nehmen. work war vor Ort – und im Netz.

ZURÜCK AUF DER STRASSE: Von Basel bis Brig trotzden die Menschen dem Regen. (Fotos: Unia, Keystone, ZVG)

Basel: Linksvortritt

Basel erlaubt, was in vielen Städten verboten ist, nämlich einen Umzug zum 1. Mai. Rund 1500 Menschen nehmen daran teil. Sie kommen als Gruppen und Grüppchen, so farbig wie das Leben: Büezer, Kurdinnen, der schwarze Block. Auffällig in gelben T-Shirts und mit ebensolchen Luftballons ist eine Gruppe von fast 200 Sans-papiers. Weiss sind die Ballons der Unia. Darauf steht «23.–». Über diesen gesetzlichen Mindestlohn stimmt ­Basel am 13. Juni ab (siehe Seite 8). Auf halber Strecke vom Messeplatz zur Mittleren Brücke übertönen plötzlich Veloklingeln die Musik aus den Demo-Lautsprechern. Aus einer Seitenstrasse kommt die Velodemo der Klima­bewegung angerollt, gut hundert Menschen auf ihren Zweirädern. Sie halten an und ­gewähren dem 1.-Mai-Umzug Linksvortritt. Dann schliessen sie sich der Demo an. (che)

Bern: Postenlauf im Nass

Weil die traditionelle Grosskundgebung nicht möglich war, organisierten die Berner Gewerkschaften einen sogenannten Postenlauf vom Aussenquartier Bümpliz bis in die Innenstadt. An Marktständen – in Bern «Märitstand» genannt – informierten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter über die aktuellen Bedürfnisse der Lohnabhängigen. Trotz heftigem Regenwetter und eher ­frischen Temperaturen kam eine warme Stimmung der Solidarität auf. Zur «Abschlusskundgebung» auf dem Bundesplatz fanden sich – planungsgemäss – nur ein ­gutes Dutzend Gewerkschaftsvertreterinnen und -­vertreter ein. (cs)

Thun: Riesentranspis & starke Frauen

18-Meter-Transparente, Konfettibomben und Berichte aus dem Arbeitsleben: Auch in Thun ist der 1. Mai heuer zurück. Und zwar gleich doppelt! Schon fast zwei Stunden vor Beginn des regulären Programms trotzen rund 40 Frauen, Männer und Kinder dem strömenden Regen. Und kommen im Hinterhof der Unia Berner Oberland zusammen. Unter freiem Himmel, mit Masken, Desinfektionsmittel und Abstand. Gesäumt von fünf handgemalten (!) Riesenbannern, die vom Unia-Gebäude flattern. Später geht’s dann im spontanen Demonstrationszug zum «offiziellen» 1. Mai am Thuner Rathausplatz.

Die Botschaft: «Der 1. Mai ist unser Tag.» Das Motto: «Wir zahlen eure Krise nicht!» Und im Mittelpunkt an diesem Nachmittag: Frauen, die aus ihrem Corona-Alltag im Verkauf und im Gastgewerbe berichten. Wie ­Köchin Angela, die seit Jahren auf ihrem Beruf arbeitet, sogar Lernende ausbildet und trotzdem nur 100 Franken mehr als den Mindestlohn verdient. Sie sagt: «Ich liebe meinen Job.» Aber wenn vom sowieso schon mageren Lohn wegen Kurzarbeit nur noch 80 Prozent reinkämen, werde es knapp. Genauso bei Verkäuferin Jasmin, die in Interlaken ­arbeitet. Als dort wegen Corona die ausländischen Gäste ausblieben, hatten die Folgen die Angestellten zu tragen: Stundenlöhnerinnen wie Jasmin bekamen kaum mehr Arbeitseinsätze. Und damit auch viel weniger Lohn. (pdi)

St. Gallen: Junge auf der Gasse

Acht Grad und Nieselregen, da sind nur noch die Wetterfesten unterwegs. Am diesjährigen 1. Mai sind dies vor allem die Jungen. Sie prägen das Gesicht der Kundgebung mit Parolen wie «St. Gallen gehört allen», «Mehr Punk, weniger Bank!» oder «Fight the Power, Smash the State». Die Alten bleiben, wohl auch wegen Corona, ebenso zu Hause wie die «Banda», die sonst Jahr für Jahr die Demo mit den Klängen der «Internationale» erfreut. Hauptrednerin Mattea Meyer, Nationalrätin aus Winterthur und Co-Präsidentin der SPS, fordert mehr Solidarität, geisselt die wachsende Ungleichheit und sagt: «Es ist Zeit für einen linken Aufbruch!» Links zu sein bedeute 2021 mehr denn je, sich für die Hoffnung zu entscheiden. Ziemlich direkte Worte findet ­darauf die St. Galler Juso-Frau Anna Miotto, sie ist auch beim Klimastreik aktiv: «Wir ­haben das alles verdammt satt. Lasst uns Seite an Seite gegen dieses Scheisssystem ­ankämpfen!» (rh)

Youtube: Online kämpferisch

Auch dieses Jahr muss der zentrale Anlass der Gewerkschaften zum 1. Mai online stattfinden, moderiert von Syndicom-Mann David Roth und VPOD-Frau Natascha Wey. Unia-Präsidentin Vania Alleva fordert einen Mindestlohn. Entweder im Gesetz oder in den GAV. Ausserdem brauche es ­höhere Renten und Lohngleichheit.

Auch SP-Co-Präsidentin Mattea Meyer betont die Wichtigkeit eines starken ­Sozialstaates. Zur Altersreform 2021 mit Erhöhung des Frauenrentenalters sagt sie: «Was vorliegt, ist eine riesige Frechheit: Den Bürgerlichen kommt nichts Gescheiteres in den Sinn als Rentenabbau. Zwei Jahre nach dem Frauenstreik lässt man uns wieder bezahlen.»

Luca Visentini, Generalsekretär des ­Europäischen Gewerkschaftsbundes, sagt: «Wenn wir keine soziale Wende schaffen, haben wir alle verloren: Wir müssen alle Sparprogramme über den Haufen werfen. Nötig ist ein ökologischer und digitaler Wandel, der niemanden zurücklässt.»

Ex-SGB-Präsident Paul Rechsteiner betont, wie der Europäische Gewerkschaftsbund den Kampf der Schweizer Gewerkschaften gegen die Demontage des Lohnschutzes voll und ganz unterstützt. «Der Kampf um bessere Löhne, Mindestlöhne muss weitergehen, es ist ja auch ein Kampf um Köpfe und um Herzen, auch im Rahmen der Digitalisierung.»

SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard fordert einen ökonomischen Plan aus dem Lockdown hinaus. Es brauche Massnahmen, um die Kaufkraft zu stärken. Aus so einer grossen Krise komme man nicht ohne den Staat hinaus. (mjk)

Zürich: Hämmer und ein Kessel

Traditionell feiert die Limmatstadt den Tag der Arbeit en masse. Doch heuer ist es erneut ein 1. Mai en miniature. Das Volksfest bleibt aus. Und statt der gewöhnlich über 15 000 Personen beteiligen sich am morgendlichen Umzug lediglich 100. Also gerade so wenige, wie die Polizei erlaubt – oder präziser – die bürgerliche Kantonsregierung. Diese setzt sich seit Monaten über die bundesrätliche Corona-Verordnung hinweg, in der es heisst: «Bei Kundgebungen gilt keine Begrenzung der teilneh­menden Personen.» Doch aus epidemiologischen Überlegungen verzichtet der ­Zürcher Gewerkschaftsbund ohnehin auf einen Grossevent. Stattdessen finden dezentrale Aktionen statt.

Auf dem Lindenhof etwa versammeln sich rund 80 Schreinerinnen und Schreiner von Unia und Syna. Hämmerschwingend protestieren sie gegen den Schreinermeisterverband, der sich nach wie vor gegen ein Vorruhestandsmodell sträubt, deshalb den Gesamtarbeitsvertrag auslaufen liess und nun sogar Verhandlungen verweigert. Unterstützung für die «Holzigen» gibt es unter anderem von SP-Nationalrat Cédric Wermuth. Keine Hämmer im Spiel sind dagegen am Nachmittag, als im Kreis 4 rund tausend Personen doch noch eine Demo­ ­wagen. Trotzdem macht ein polizeiliches Gross­aufgebot samt Helikopter und Gummischrotschützen den Marsch zum sportlichen Quartierrundlauf. Und beendet diesen mit einem Kessel und Wegweisungen aus dem gesamten Stadtgebiet. (jok)

1 Kommentar

  1. Beat Hubschmid

    Von den Cüpli-Sozialisten bis zu den Linksextremen: sie alle konnten marschieren am Tag der Arbeit(-er). Nur wir Büezer und FacharbeiterInnen wurden – einmal mehr – abgeriegelt.
    Dabei möchten wir dafür einstehen – nach über drei Jahrzehnten des Neoliberalismus – WIR wieder partizipieren können in Politik und Gesellschaft. Und mit Leiharbeiterschaft gibt es keine Inklusion, sondern eine „neue“ Sklaverei.

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