Nach der Brüssel-Reise von Bundespräsident Parmelin:

Rahmenabkommen: nur im Koma – oder doch schon verstorben?

Clemens Studer

Wie manche Runde dreht das Rahmen­abkommen mit der EU noch? Auch nach dem Treffen des Schweizer Bundespräsidenten mit der EU-Kommissionpräsidentin bleibt die Lage verfahren.

ZIEMLICH GROSSER GRABEN: Bundespräsident Guy Parmelin und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen trafen sich in Brüssel, aber nicht in der Mitte. (Foto: Keystone)

Das Rahmenabkommen mit der EU ist noch nicht offiziell tot. Es zuckt noch ein bisschen. Die Frage ist: Gelingt der Befreiungsschlag den sich immer noch manche ­erhoffen? Oder braucht es doch ­einen Neuanfang? Denn in der vorliegenden Form ist das Rahmenabkommen nicht mehrheitsfähig – und darum eigentlich auch nicht unterschreibbar.

Dabei ist es in grossen Zügen gar nicht so schlecht. Aber die Marktradikalen hüben und drüben wollten gleich auch noch den Schweizer Lohnschutz schleifen. Denn die Schweizer flankierenden Massnahmen sind ihnen seit je ein Dorn im Auge. Weil diese die Lohnabhängigen schützen. Und das ist ihnen zu profitschädigend.

BRUCHPILOT CASSIS

Aussenminister Ignazio Cassis, dieser FDP/SVP-Hybrid-Bundesrat, stellte sich an die Spitze der Lohnschutzschleifer. Und legte eine Bruchlandung hin. Weil der damalige SGB-Präsident Paul Rechsteiner den Braten roch und klare Ansagen machte: ohne Lohnschutz nicht mit uns! Bis heute ist die Haltung der Gewerkschaften klar: «Rahmenabkommen ja, aber nicht in dieser Form.» Die rechtsnationalistische SVP ist sowieso gegen einen Rahmenvertrag. Bei der FDP bröckelt die Ja-Front. Und der schlaue Mitte-(Ex-CVP-)Präsident Gerhard Pfister hat schon länger begriffen, dass es so nichts wird. Wie verchachlet die Lage unterdessen ist, hat auch die Mehrheit des Bundesrates begriffen. Und den Bruchpiloten Cassis kaltgestellt. Obwohl er im «Sonntagsblick» noch gross ­ankündigte, er werde gemeinsam mit Bundespräsident Guy Parmelin nach Brüssel reisen, musste er zu Hause bleiben.

Der Schweizer Lohnschutz muss vor dem EU-Gerichtshof geschützt werden.

KLARTEXTER PARMELIN

Volkswirtschaftsminister Parmelin reiste mit zwei schweren Rucksäcken nach Brüssel. Der eine mit den drei strittigsten Punkten: Lohnschutz, Unionsbürgerricht­linien und Service-public-Finanzierung. Der zweite mit seiner SVP-Zugehörigkeit. Doch der Waadtländer Weinbauer schlug sich wacker. Weder liess er sich von seiner Partei instrumentalisieren noch von EU-Kommissions­präsidentin Ursula von der Leyen sonderlich beeindrucken. Er deponierte die Botschaft, die Cassis immer verschleiert hatte: In den strittigen Punkten des vorliegenden Vertragstextes braucht es mehr als «Präzisierungen». Es braucht Änderungen. Was die EU, die das ­Abkommen für «fertig ­verhandelt» erklärt hat, natürlich nicht amüsiert. Schliesslich hatte der Schweizer Aussenminister Cassis das ­irgendwann auf irgendeinem Flughafen dem Vernehmen nach einem EU-Vertreter so be­stätigt.

WIE WEITER?

Die Lage ist verfahren. Denn einerseits würde die Schweiz von einem vernünftigen Rahmenabkommen genauso profitieren wie die EU. Statt «autonomen Nachvollzugs» oder Dauerverhandlungen würde rechtliche Klarheit herrschen. Für die Unternehmen wie für die Lohnabhängigen. Andererseits ist das Rahmenabkommen in der ­vorliegenden Form gerade für ­die Arbeitnehmenden nicht annehmbar.

Was müsste geschehen, damit doch noch ein mehrheitsfähiges Abkommen zustande käme?

  1. Der Schweizer Lohnschutz und die flankierenden Massnahmen generell müssen vor dem Zugriff des Europäischen Gerichtshofs geschützt werden. Denn dieser fällt immer wieder mit Urteilen gegen die Lohnabhängigen auf.
  2. Bei den Unionsbürgerricht­linien gibt es Verhandlungsspielraum. SP-Co-Präsident Cédric Wermuth hat sie in einem Interview skizziert. So wäre zum Beispiel ein Angebot an die EU-Länder, dass ihre Bürgerinnen und Bürger nach fünf Jahren Aufenthalt in der Schweiz das Bürgerrecht erhalten.
  3. Auch bei der Finanzierung des Service public (etwa Kantonalbanken, Energiewerke usw.) liessen sich Lösungen finden.

All das hätte eigentlich zum Job von Cassis und seinem Team gehört. Jetzt müssen neue Leute versuchen zu flicken, was Cassis & Co. angerichtet haben.

HOFFNUNG STIRBT ZULETZT

Wieweit die EU bereit ist, wieder auf echte Verhandlungen einzusteigen, ist im Moment Kaffeesatzleserei. Es gibt Hoffnungsvolle wie etwa alt Bundesrat Pascal Couchepin, der in der «Schweizer Illus­trierten» sagte: «Man muss nicht mehr ewig verhandeln. Sondern die jüngsten Vorschläge von Brüssel und Bern in Übereinstimmung bringen und dann den Vertrag dem Parlament vorlegen.» Und es gibt solche, die das vorliegende Werk für gescheitert halten. Darunter viele gewerkschaftsnahe ­Politikerinnen und Politiker. Sie wissen: gegen die Lohnabhängigen und gegen die SVP ist keine Abstimmung zu gewinnen. Und die Lohnabhängigen sind nicht zu gewinnen, solange die flankierenden Massnahmen in Gefahr sind.


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