30'000 Schreinerinnen und Schreiner zittern:

Schreinermeister verhobeln den GAV

Johannes Supe

Im Schreinereigewerbe gilt ein vertragsloser ­Zustand. Weil der Meister­­verband ein fertig verhandeltes Vertrags­paket auf der Zielgeraden sausen liess.

UNGEHOBELT: Die Schreinermeister haben den bereits ausgehandelten GAV platzen lassen. Jetzt stehen die Schreinerinnen und Schreiner ohne gesicherte Mindestlöhne da. (Foto: iStock)

Seit Anfang Jahr gelten im Schreinereigewerbe kaum noch Regeln, es gibt praktisch keine Kontrollen mehr. Dabei fehlen der Schweiz Tausende Fachkräfte im Schreinereigewerbe. Doch das hat der Schreinermeisterverband VSSM wohl nicht bedacht, als er ein ­fertig verhandeltes Vertragspaket ablehnte. Mit dem Verlust des Gesamtarbeitsvertrages (GAV) drohen 30’000 Schreinerinnen und Schreiner den Schutz zu verlieren, den die Gewerkschaft über Jahre verteidigt hat. work erklärt, was jetzt auf die Schreinerinnen und Schreiner zukommt:

  • Das Vorruhestandsmodell
    Es war das grosse Versprechen der Chefs: Endlich werde man über ein Vorruhestandsmodell (VRM) sprechen, um den Mitarbeitenden eine frühere Rente zu ermöglichen. Wie wichtig das für viele Schreinerinnen und Schreiner ist, weiss Thomas Gerber (siehe Text unten), der seit 38 Jahren in der Branche arbeitet: «Wir Schreiner kämpfen später oft mit Rückenproblemen. Deshalb wäre ein Vorruhestandsmodell gut. Es würde auch zeigen, dass man die Arbeit der Schreiner wertschätzt.» Und tatsächlich: Es wurde ein Modell ausgearbeitet, dass den Beschäftigten eine Reduzierung der ­Arbeit ab dem 60. Altersjahr und einen Rentenantritt ab 63 ermöglicht hätte. All das bei nur geringen Abzügen. Doch daraus wird jetzt nichts.
  • Die Löhne
    Ohne geltenden Gesamtarbeitsvertrag sind die Löhne nicht geschützt. Die im GAV enthaltenen Mindestlöhne und Lohnstufen sind fort, dem Lohndumping also Tür und Tor geöffnet. Ausserdem verlieren die Schreinerinnen und Schreiner ihren Anspruch auf einen 13. Monatslohn.
  • Arbeitszeiten und Ferien
    41,5 Stunden pro Woche wird im Schreinereigewerbe gearbeitet. So steht es im GAV. Doch der gilt nicht mehr. Es verbleiben nur noch Obligationenrecht und Arbeitsgesetz. Und die sehen Wochenarbeitszeiten von bis zu 50 Stunden vor. Auch stehen den Beschäftigten gesetzlich nur 20 Ferientage zu. Nach Gesamtarbeitsvertrag wären es drei mehr.
  • Die Weiterbildungen
    Das System der Weiterbildungen hängt am GAV. Ohne ihn fliesst auch kein Geld, die Arbeitgeber müssten für Weiterbildungen also selbst in die Tasche greifen. Da sie die Ausgaben scheuen, verzeichnet die Höhere Fachschule Bürgenstock schon jetzt weniger Anmeldungen.
  • Das Kontrollsystem
    Lohnkontrollen wurden bislang von den paritätischen Kommissionen aus Gewerkschaften und Chefs durchgeführt. Sie sollen sicherstellen, dass die Beschäftigten erhalten, was ihnen zusteht. Doch nun müssen die paritätischen Kommissionen ihre Arbeit einstellen.

Dem Lohndumping sind jetzt Tür
und Tor geöffnet.

WIE WEITER?

Wichtig ist: Für alle, die bereits vor Januar angestellt waren, ändert sich zunächst wenig. Für sie bleiben die bisherigen Regelungen bestehen. Will die Firma das ändern, muss sie eine Änderungskündigung aussprechen. Wer aber neu anfängt oder die Stelle wechselt, ist nun der Willkür der Meister ausgesetzt.


Verhalten der Meister:«Eine Schlitzohrigkeit, ein Wortbruch, eine glatte Lüge, ein Desaster»

Thomas Gerber, Schreiner und GAV-Verhandlungsmitglied. (Foto: Unia)

Unia-Verhandlungsleiter Giuseppe Reo und Schreiner Thomas Gerber finden drastische Worte, wenn es um den vertragslosen Zustand im Schreinereigewerbe geht. Und um das Verhalten der Chefs, die ihn zu verantworten haben: «Eine Schlitzohrigkeit, ein Wortbruch, eine glatte Lüge, ein Desaster.» Gerber, der als Unia-Mitglied mitverhandelt hat, sagt: «Es kann doch nicht sein, dass sich nach jahrelangen Gesprächen eine Partei das Recht herausnimmt, alles Vereinbarte wieder zurückzunehmen.» Es ist die Wut dar­über, dass seine Branche ohne Schutz für die Beschäftigten dasteht.

«Wir haben schon 2018 gesagt: Wir werden einen neuen Gesamtarbeitsvertrag über Löhne und Arbeitsbedingungen nur im Paket mit einem Vorruhestandsmodell besprechen», erinnert sich Unia-Mann Reo. Auch der Firmenverband VSSM hatte zuvor schriftlich zugesichert, auch über ein Vorruhestandsmodell zu sprechen. So weit bestätigt auch der VSSM die Erzählung. Gegenüber work erklärt dessen Zentralpräsident Thomas Iten aber: «Das Thema kam nicht von uns. Es wurde uns von den Gewerkschaften aufgezwungen.» Die Einwände der Schreinermeister: zu teuer. Ausserdem könnten die Mitarbeitenden das reguläre Rentenalter gesund erreichen.

In den Gesprächen gibt es dennoch eine Einigung. Die Gewerkschaften geben beim GAV nach, müssen etwa eine Verlängerung der Arbeitszeit hinnehmen. Dafür will der VSSM bei einem Modell mitziehen, das eine Rente ab 63 vorsieht. Bei Unia und Syna entscheiden die Schreinerinnen und Schreiner Mitte 2020 über die Vorlage. Hier ist klar: ein Paket, eine Abstimmung. Die Berufsleute stimmen deutlich dafür. Anders beim VSSM. Dort wird im November über Gesamtarbeitsvertrag und Rente mit 63 getrennt abgestimmt. Es ist ein Prozedere mit Folgen: Zum GAV, in dem ihre Wünsche enthalten sind, sagen die Chefs Ja, zur Frühpensionierung Nein.

«Der Verband hat alles Vereinbarte wieder zurückgenommen.»

DOPPELTES SPIEL. «Ich glaube, der VSSM hat damit gerechnet, dass es so kommt», meint Thomas Gerber. Also doppeltes Spiel beim Unternehmerverband? Unia-Verhandlungsleiter Reo unterstellt zumindest «Schlitzohrigkeit». Und: «Ihre Erklärung, dass man formal so abstimmen müsse, ist Mumpitz. Das haben sie in den Verhandlungen nie eingebracht.» VSSM-Mann Iten stellt die Lage anders dar. Die Abstimmung sei getrennt worden, um Klarheit zu bekommen, wie die Schreinermeister wirklich zur Frühpensionierung stünden. Den Delegierten sei aber deutlich gemacht worden, dass ein Nein zur Rente mit 63 auch den GAV in Frage stelle. Gegenüber work postuliert Iten: «Über eine frühere Pensionierung können wir jetzt nicht mehr diskutieren, das ist vom Tisch.»

Mit grosser Energie versucht der VSSM nun, Öffentlichkeit und Beschäftigten weiszumachen, dass Unia und Syna am vertragslosen Zustand schuld seien. Darüber können die Gewerkschaften nur den Kopf schütteln. «Es war der VSSM, der sich gegen das gesamte Paket entschieden und damit das Ende des GAV provoziert hat», hält Giuseppe Reo fest. Nun liege es an dem Verband, das verhandelte Ergebnis zu respektieren. Andernfalls wolle die Gewerkschaft Aktionen planen, so Reo weiter.


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