Die Situation ist ausserordentlich ernst, die offizielle Lage nur «besonders»

Westschweiz im Lockdown, Deutschschweiz (noch) offen

Clemens Studer

Weil der Bundesrat die Verantwortung für die Pandemie-Bekämpfung wieder den Kantonen übertragen hat, ist die Schweiz im Unterschied zu den Nachbarn ein ­Flickenteppich.

MEHR FÄLLE, KEINE ZENTRALE BEKÄMPFUNG. Der Bund überlässt die Eindämmung der Virenausbreitung überwiegend den Kantonen. (Fotos: Getty/Keystone; Illustration: TnT Graphics)

10’073 bestätigte Coronafälle meldete das Bundesamt für Gesundheit (BAG) am 4. November (Redaktionsschluss dieser Ausgabe). Testen liessen sich 36’369 Menschen, 27,7 Prozent waren also Covid-positiv. 247 Personen mussten ins Spital eingeliefert werden. 73 starben.

Am gleichen Tag entschied der Bundesrat einiges in Sachen Corona und Geld. Zum Beispiel zum Härtefall-Fonds. Und er führt die Erwerbsersatzentschädigung für Selbständige und KMU weiter und weitet sie aus. Auch der Sport wird unterstützt. Und die Armee mobilisiert für die Spitäler, die am Anschlag sind.

Die Virenbekämpfung überlässt der Bundesrat weiterhin den Kantonen.

Aber die Bekämpfung der Virenausbreitung überlässt er weiterhin überwiegend den Kantonen. Europäische Länder mit weniger dramatischen Fallzahlen pro Kopf als die Schweiz sehen das anders:

Zum Beispiel Deutschland: Die Regierung von Bundeskanzlerin Angela Merkel fährt das Land für mindestens einen Monat massiv runter. Die ganze Gastronomie ist geschlossen, touristische Angebote verboten. Auch alle Freizeitangebote wie zum Beispiel Museen, Kinos und Freizeitparks. In der Fussball-Bundesliga gibt’s nur noch Geisterspiele. Das alles wirtschaftlich abgesichert für die betroffenen Firmen und Selbständigen, wenn auch nicht vollumfänglich. Geschätzte Ausgaben: 10 Milliarden Euro.

Zum Beispiel Italien: Im ganzen Land gilt eine nächtliche Ausgangssperre von 22 bis 5 Uhr. Freizeiteinrichtungen sind geschlossen. Die Platzzahl im öffentlichen Verkehr halbiert. Je nach regionalen Fallzahlen gelten für die Gastronomie unterschiedlich massive Einschränkungen. Und in weiten Gebieten Norditaliens werden mit Ausnahme von Lebensmittelgeschäften auch die Läden wieder geschlossen.

Zum Beispiel Österreich: Bundeskanzler Sebastian Kurz verhängt seinem Land im November unter anderem eine nächtliche Ausgangsbeschränkung zwischen 20 Uhr abends und 6 Uhr morgens. Alle Veranstaltungen in Kultur, Sport und Freizeit sind abgesagt. Hotels und Restaurants müssen schliessen. Handel und Dienstleistungsbetriebe bleiben offen. Betroffene Unternehmen bekommen vom Staat 80 Prozent ihrer Umsätze erstattet, die sie im November 2019 erzielten.

WESTSCHWEIZ KONSEQUENTER

Und auch in der Schweiz fielen und fallen die Lockdowns in die Kantone wie die Milchzähne aus dem Kiefer einer Erstklässlerin. Aber nur im Westen.

21. 10.: Wallis (am 4. 11. verschärft)
30. 10.: Jura
1. 11.: Genf
2. 11.: Neuenburg
3. 11.: Freiburg
3. 11.: Waadt

Hektische Tage auch im Bundeshaus beziehungsweise in den Departementen. VBS-Chefin Viola Amherd gibt Gas, wie schon immer in dieser Pandemie. Noch mehr, seit die CVPlerin sieht, was in ihrem Heimatkanton Wallis abgeht. Und beflügelt vom Zufallsmehr für ihre milliardenteuren Kampfjets. Wie zu hören ist, wollte sie ihre Kolleginnen und Kollegen bereits in der letzten Oktoberwoche von ­wesentlich schärferen Massnahmen überzeugen. SP-Gesundheitsdirektor Alain Berset tickt in ähnlichem Takt. Allerdings – heisst es – möchte er sich nach dem frühsommerlichen Aufstand der Gewerbeverbände, der rechten Parteien und der Mehrheit der Deutschschweizer Kantone den Schuh des «Corona-Diktators» nicht mehr freiwillig anziehen. Ohne klare Aufforderung einer Mehrheit der Kantone erst recht nicht. Und die lässt weiter auf sich warten. Mit unterschiedlichem politischem Frontverlauf.

Bemerkenswert dabei weiterhin der Kanton Zürich. Dort erhofft sich SVP-Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli mehr zentrale Steuerung durch den Bund, während die Sozialdemokratin Jacqueline Fehr und SP-Mitglied Mario Fehr mit dem Rest der ­Regierung bremsen. Auch bei den Massnahmen, die Kantone in eigener Verantwortung entscheiden könnten.


Schöne neue Corona-Zeit:Erfahrung eines Gewerkschaftsfunktionärs

JOHANNES SUPE im Unia-Büro in Thun. (Foto: ZVG)

«Verflucht! Zum zweiten Mal macht Corona die Sache kaputt.» Das ist der erste Satz, der mir durch den Kopf schiesst. Ich schaue mich in unserem Thuner Unia-Büro um, blicke zu Kollege und Kollegin. Lange Gesichter. Sie denken dasselbe.

DESINFIZIERT. Es ist Freitag, der 23. Oktober, 15.35 Uhr. Die Berner Kantonsregierung verkündet, dass Veranstaltungen mit mehr als 15 Teilnehmenden untersagt werden. In wenigen Tagen hätte unsere Versammlung stattfinden sollen; angemeldet haben sich rund 50 Arbeiter. Uns drei Unia-Leuten ist klar, dass die Versammlung, für die wir zwei Monate telefoniert, Baustellen besucht und Briefe versandt haben, nun verflixt viel schwieriger zu organisieren wird. Meine Kollegin hofft: «Vielleicht ist noch was zu retten.» Eine halbe Stunde später wissen wir: Leider nicht. Das Re­staurant hat sich gemeldet – um uns abzusagen. Passé sind Schutzkonzept und Meldeliste. Wieder müssen wir den Arbeitern die schlechte Nachricht mitteilen. Wie schon im März …

Einige meiner Kolleginnen und Kollegen erlebe ich nur noch als Stimmen am Telefon. Die Tür, die uns Gewerkschaftssekretäre von Administration und Rechtsberatung trennt, bleibt geschlossen. Wenn wir einander brauchen, müssen wir anrufen. In unserem eigenen Büro tragen wir bereits seit Wochen Masken. Gehen wir hinaus, ziehen wir noch Handschuhe an. Kugelschreiber desinfizieren wir; was wir abgeben, packen wir auch ab. Strenge Massnahmen, aber sie sollen uns und die Bauarbeiter schützen.

Arbeit: Hopp! – Freizeit: Stop!

KEIN FEIERABENDBIER. Was aber hat sich auf den Oberländer Baustellen für die Büezer seit Corona-Beginn geändert? Teils sind zusätzliche Baracken aufgestellt worden, Seifen- und Desinfektionsspender finden sich nun auf mehr Baustellen, flächendeckend sind die geltenden Regeln ausgehängt. Eingehalten werden sie oft nur da, wo es nicht zu unbequem für die Firmen ist. Und so stehen die Büezer teils eng an eng in Kanälen oder an Schalungen. Fast immer ohne Maske.

Auf eines achten die Vorgesetzten aber genau – darauf, wie wir Unia-Leute unterwegs sind. Mehr als einmal mussten wir uns anhören, dass die Gewerkschaft nicht auf die Baustelle dürfe. Zu gefährlich. Aber gut, die, die das sagen, wollten uns auch vor Corona schon wegjagen. Neu ist: Gehen die Arbeiter in die Pause, dann sollen sie Maske tragen. Wie sinnvoll das bei Leuten ist, die zuvor dasselbe Arbeitsgerät angefasst haben, sei dahingestellt. Vorarbeiter und Poliere, auf die jetzt besonders viel Verantwortung abgeschoben wird, kommentieren das meist lakonisch: «Wenn man alles einhalten wollte, müssten wir einstellen.»

Vorgesehen ist das nicht. Im Gegenteil: 20 Arbeiter können problemlos auf dieselbe Baustelle. Nur dürfen sie strenggenommen nach Feierabend kein Bier mehr miteinander trinken. So sind die Regeln von Bund und Kanton: Arbeit: Hopp! – Freizeit: Stop! Natürlich fragen mich einige Beschäftigte, ob da wirklich ihre Gesundheit im Vordergrund stehe. Schwer zu sagen. Sicher ist nur: der Fertigstellungstermin steht. (jos)


Weitere Artikel zum Thema:

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.