Nach der Coronakrise ist erst vor der Krise:

Wirtschaft hat keinen On-off-Schalter

Oliver Fahrni

Die Coronakrise ist nicht Corona geschuldet, ­deshalb wird sie länger dauern. Der Ausweg sind höhere Löhne, mehr ­Investitionen und Steuern für die Reichen.

GÄHNENDE LEERE: Im Lockdown stand der Amsterdamer Bahnhof still. Nur sehr langsam nimmt die Weltwirtschaft jetzt wieder Fahrt auf. (Foto: Getty)

Masken runter, Grenzen und Beizen auf – ist das Gröbste jetzt überstanden? Zuallererst: Reden wir nicht über das Coronavirus, denn trotz Riesengetöse wissen wir immer noch zu wenig. Sicher hingegen wissen wir: Die Wirtschaftskrise hat gerade erst richtig begonnen.
Der britische Ökonom Torsten Bell formuliert es so: «Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen wie eine Rakete, aber runter kommt sie wie eine Daunenfeder.» In der Schweiz ist die Zahl der Erwerbslosen trotz Kurzarbeit im Vergleich zum Vorjahr um fast 54 Prozent gestiegen (Zahlen Mai). In den USA und in der EU sind inzwischen so viele Arbeitende um ihre existentielle Sicherheit gebracht worden, dass die Krise politischen Sprengstoff produziert. Doch das ist erst der Anfang: Sämtliche Daten sagen eine grosse Konkurs- und Enlassungswelle für den frühen Herbst voraus. Auch in der Schweiz.

Die Coronakrise kaschiert
eine tiefere Krise des Finanzkapitalismus.

ALLES WIEDER WIE VORHER?

Nie war eine Krise im modernen Kapitalismus so abrupt, so weltumspannend und so brutal. In kürzester Zeit haben viele Millionen Menschen Job und Brot verloren, noch mehr sind in sämtlichen Ländern in die Armut abgestürzt. Und nie haben sich Regierungen mit solcher Heftigkeit und weltweit koordiniert gegen eine Krise gestemmt: Sie haben Rettungspakete von mehr als 17 Billio­nen Dollar (15’000 Milliarden Franken) aufgelegt (siehe Box).

Dieser historische Vorgang verändert die Welt. Das Problem mit den Rettungspaketen ist doppelt. Wirken sie überhaupt? Volkswirtschaften haben keinen On-off-Knopf. Die meisten der heute Entlassenen kehren morgen nicht einfach wieder in ihren alten Job zurück. Wissen und Erfahrung gehen verloren, Menschen über 50 werden schneller entlassen (siehe Seite 4), und die Chancen der Jungen auf eine erfüllte berufliche Existenz sinken rabiat. Zum ersten Mal steigt in der Schweiz die Jugendarbeitslosigkeit deutlich an, um 77 Prozent (Mai).

Das hängt mit dem zweiten Problem ­zusammen. Alle Krisen verändern die Me­chanik der Wirtschaft. Die Digitalisierung bekommt einen mächtigen Schub, mit Tele-Heimarbeit und mit der raschen Automatisierung vieler Dienstleistungen. Ebenso verschärft sich die Kapitalkonzentration, weil kleinere und mittlere Unternehmen eliminiert werden. Und drittens stehen heute die soziale Sicherheit und sogar der Service pu­blic, der doch in der Seuche gerade das Land gerettet hat, unter intensivem Beschuss der Rechten und der Witschaftsverbände.

HAT COVID-19 DIE KRISE AUSGELÖST?

Die Corona-Pandemie hat eine Krise extrem beschleunigt, die schon seit 2018 schwelte. Die weltweite Industrieproduktion begann bereits 2018 zu schwächeln und brach in Schlüsselindustrien (etwa der Autoindus­trie) 2019 regelrecht weg, besonders deutlich bei «Exportweltmeister» Deutschland. Die Nachfrage nach Schweizer Produkten wuchs seit 2017 nur noch schwach. Bereits 2019 lag das Wachstum bei null, und die Investitionen waren negativ. Das sind starke ­Indikatoren für eine strukturelle Krise. Dasselbe Bild zeigte sich in fast allen fortgeschrittenen Volkswirtschaften.

Weit schlimmer noch war es um den ­Finanzsektor bestellt. Die Bankenkrisen jagten sich, etwa in Italien. In den zwei Jahren vor Corona mussten Zentralbanken bereits 1000 Milliarden Dollar in Bankenrettungen stecken. Die Finanzderivate, die die Krise 2008 ausgelöst hatten, erreichten 2019 das Sechs­fache des weltweiten Bruttoinlandprodukts (BIP). In allen Gremien, die seit 2008 das internationale Finanzsystem zu stabilisieren versuchen, kam Mitte 2019 hektische Aktivität auf. Schliesslich beschlossen die Weltenlenker am G-20-Treffen im japanischen Osaka Ende Juni 2019, den neuen drohenden Crash mit umfassenden Rettungspakten abzuwehren.

RIESIGES SCHULDENPROBLEM?

Die Coronakrise kaschiert eine tiefere Krise des Finanzkapitalismus, die seit 2008 regelmässig zu neuen und immer schärferen Ausbrüchen führt. Lockdown und Krise werden die Schweiz wohl an die 100 Milliarden Franken kosten.

Finanzminister Ueli Maurer will diese Ausgaben durch Sparprogramme und eine «Verzichtsplanung» abtragen. So attackieren SVP und Freisinnige gerade die AHV. Das ist neoliberaler Unsinn. Was für den privaten Haushalt stimmt, ist volkswirtschaftlich falsch. Werden Löhne, soziale Sicherheit und öffentliche Dienste gedrückt, kurbelt das die Krise erst scharf an. Sparen bei der öffentlichen Hand dient allein der Umverteilung von unten nach oben. Richtig hingegen wären die Erhöhung der Löhne, massive Investitionen in den ökologischen Umbau und höhere Steuern für die Bestverdienenden. Mit Corona oder ohne Corona.

Zurück zur Normalität? Nein danke!

Die 17 Billionen, die uns Leute wie SVP-Finanzminister Ueli Maurer nun als «Schulden» aufs Auge drücken wollen, sollen dazu dienen, zur «Normalität» zurückzu­kehren. Nicht mit uns, finden dieser Tage überall auf der Welt Bürgerinnen und ­Bürger. Die Normalität, sagen sie, war in Wahrheit abnorm. Sozial, ökologisch und menschlich verheerend.

DIFFUSE REBELLION. In kürzester Zeit und fast unbemerkt sind deshalb rund um den ­Globus Zehntausende von Bewegungen entstanden. Von Hunger- und Neu-Obdachlosengruppen in Europas reichen Städten über militante Ärzte- und Pflegerinnengruppen, Feinde staatlicher Überwachung und polizeilicher Gewalt bis zu kritischen Ökonomen, Gelbwesten und Neo-Bauern urbaner Landwirtschaft. Wenig eint diese Gruppen, ihre Ausrichtungen gehen quer durchs ­politische Spektrum, von übelstem Ultra-nationalismus bis zum aufgeklärten Öko­sozialismus. In der publizierten Öffentlichkeit werden sie nur wahrgenommen, wenn irgendwo die Schaufenster bersten. Doch die Regierungen rüsten ihre Sicherheits­apparate mächtig auf. Sie haben verstanden: Diese diffuse, rasch wachsende Rebellion ist der andere entscheidende Fakt des beginnenden Corona-Zeitalters.


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1 Kommentar

  1. Peter Bitterli

    Im Kapitalismus kann man krankhaft fett werden. Mangels Bruttosozialprodukt ist das im Sozialismus weniger gut möglich, obwohl einem mangels Motivation und Entfaltungsmöglichkeiten fast nichts Anderes zu tun bliebe.

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