Die Haurucköffnung macht Mitarbeitenden und Beizern Sorgen

«Ein Kellner mit Schutzmaske? Da hab ich keinen Hunger mehr!»

Christian Egg und Marie-Josée Kuhn

Nicht wenige aus der­ Gastro­branche ­halten die Wieder­öffnung der ­Restaurants für überstürzt und abenteuerlich.

EIN KRAMPF: Viele Restaurants werden jetzt den Betrieb wegen der vielen Einschränkungen nicht rentabel führen können. Da nützt auch der Sparschäler nichts! (Foto: Keystone)

Zwei Meter Abstand im Service und in der Küche – das sieht das neue Corona-Schutzkonzept des Branchenverbands Gastrosuisse vor. Die Köchin Sofia Valderrama (26) vom Zürcher Gastra-Kollektiv sagt dazu: «In der Praxis funktioniert das kaum.» Im Gastgewerbe komme man sich ab und zu näher, «das lässt sich gar nicht vermeiden.» Genau das stellt auch Restaurant­leiterin Majlinda Veli fest. Sie sagt: «Anderthalb Meter Abstand schaffen wir, aber zwei Meter nicht. Deshalb tragen wir alle Schutzmasken.» (siehe unten)

BEIZEN ALS BRANDBESCHLEUNIGER

Das Zürcher Gastra-Kollektiv setzt sich seit dem Frauenstreik 2019 für bessere Arbeitsbedingungen und gegen Sexismus im Gastgewerbe ein. Jetzt kritisieren die Fachfrauen die rasche Wiederöffnung der Beizen. «Wir waren wie vor den Kopf gestossen», erzählt Valderrama. Dass ein so heikler Bereich wie die Gastronomie plötzlich in die zweite Stufe des Exit-Fahrplans rutschte, habe unter den Mitarbeitenden niemand verstanden.

Desinfektionsmittel, Schutzmasken, Trennwände: all das soll das Ansteckungsrisiko in der Beiz zwar verkleinern. Und ist im Schutzkonzept von Gastrosuisse minutiös und kompliziert geregelt. Doch wie hoch ist das Restrisiko?

Sehr hoch, sagt der deutsche Epidemiologe und Gesundheitspolitiker Karl Lauterbach. Im ZDF warnte er kürzlich eindringlich vor einer überstürzten Öffnung der Gaststätten: «Restaurants sind die Brandbeschleuniger der Pandemie!» Verschiedenste Corona-Studien belegen das. Zusammen an einem Tisch essen und reden sei höchst ansteckend. Tückisch beim Corona­virus ist auch: Wer noch keine Symptome zeigt, ist dennoch ansteckend. Und die Viren bleiben während Stunden in der Luft hängen. Räume müssten deshalb auch alle paar Stunden gründlich durchlüftet werden, mahnt Lauterbach. Doch welche Restaurants wollen das schon tun, während die Gäste da sind und es draussen noch nicht Sommer ist?

Es sind denn auch die gesundheitlichen Auswirkungen der Beizen-Haurucköffnung, die Sofia Valderrama beschäftigen: «Nicht so sehr meinetwegen, aber ich könnte andere anstecken, Gäste oder Personen im privaten Umfeld.» Und sie sagt deutlich, wie sich die Mitarbeitenden in der Gastronomie fühlen – mit ihren tiefen Löhnen und viele mit Migrationshintergrund: «als Kanonenfutter».

«Für Kleine könnte die Öffnung sogar den Konkurs bedeuten.»

KOMMT ES ZUR KONKURSWELLE?

Ein reiner «Lobbyisten-Entscheid» sei die Haurucköffnung gewesen, so die engagierte Köchin. Die Rechten, allen voran die SVP, wollten keine Kurzarbeitsgelder mehr ausgeben für die Branche. Deshalb die überstürzte Öffnung. Ist das so?

Noch sei «kein Entscheid gefallen, den Anspruch auf Kurzarbeit einzuschränken», sagt Seco-Mediensprecher Fabian Maienfisch auf ­Anfrage: «Wenn Restaurants weiterhin die ­Anspruchsbedingungen für Kurzarbeit erfüllen, haben ihre Beschäftigten Anspruch auf Kurz­arbeitsentschädigung.» Grundsätzlich müssten die Gastronomiebetreiber allerdings «alles Mögliche tun, um ihr Lokal unter den vorgeschriebenen Schutzmassnahmen wieder öffnen zu können». Das riecht nach Druck.

Köchin Valderrama sagt deshalb: «Damit stiehlt sich der Bundesrat aus der Verantwortung. Vor allem die kleinen Betriebe müssen jetzt selber schauen, wie sie mit den Einbussen überleben können.» Viele seien schon vor Corona finanziell am Limit gewesen: «Für die könnte der Entscheid den Konkurs bedeuten.»

Bedenken, es unter diesen Corona-Bedingungen ökonomisch nicht mehr zu schaffen, hat auch die Fernseh­köchin und Gastro­unternehmerin Meta Hiltebrand. Sie betreibt in Zürich das Restaurant Le Chef. Darin finden 60 Gäste Platz. Mit der neuen 2-Meter-Abstandsregel hingegen nur noch deren 20. Dies bei gleichbleibenden Personal- und Fixkosten! Hiltebrand schätzte im «Blick», dass sie dies drei Viertel ihres Gewinnes kosten könnte.

Noch schwärzer sieht Diego Dahinden, ­Mitinhaber des Berner Ausgehlokals Kapitel. ­
Er bezeichnete die rasche Öffnung als «die dümmste aller Lösungen». Auf Facebook machte der Gastronom seinem Ärger noch vor dem 11. Mai Luft: «Kein einziger Gastrobetrieb kann so halbwegs rentabel wirtschaften.»

RECHNEN, RECHNEN, RECHNEN

Jedenfalls nicht die kleineren Lokale, die in der Küche zum Beispiel nur einen Koch und einen Tellerwäscher beschäftigen. Was sollen sie tun, wenn sie jetzt nur noch 50 Prozent Einnahmen erwirtschaften? Nur noch einen halben Koch und einen halben Tellerwäscher beschäftigen? Dahinden findet deshalb, es wäre klüger gewesen, länger zu warten und dann dafür «normaler» zu öffnen.

Die Haurucköffnung trifft nicht alle gleich. Die Grossen weniger als die Kleinen. Die, die viel Aussenfläche haben, weniger stark als die, die nur Innenplätze haben. Und doch müssen alle jetzt schwer rechnen. Andreas Hunziker, der CEO des Gastrogiganten ZFV, rechnet vor: «Natürlich braucht es prinzipiell für weniger Gäste weniger Personal. Doch ein Betrieb benötigt auch mit tieferen Frequenzen einen Grundstock an Mitarbeitenden. Und um die Umsetzung der Schutzmassnahmen zu gewährleisten, entstehen auch grössere Aufwände im Personal- und im Betriebsaufwand.»

Hunzikers Fazit: «Die Umsätze sinken durch die tieferen Frequenzen, während die Fix- beziehungsweise Bereitschaftskosten durch die höheren Aufwände steigen.» Gerade in der Gastro­branche mit ihren tiefen Margen sei das fatal: «So können die reduzierten Umsätze die entstehenden Kosten nicht decken.»

AMBIENTE GANZ ANDERS

Das Auge und die Seele essen mit. Das ist eine alte Gastroweisheit. Deshalb ist das Ambiente in einem Restaurant oft genauso wichtig wie das ­Essen auf dem Teller. Vor allem das Abendessen sei «ein Gesamterlebnis», sagt der Geschäftsführer des Gastrounternehmens Remimag, Bastian Eltschinger. Remimag betreibt schweizweit fast 30 Restaurants. Doch genau dieses Gesamter­lebnis sei jetzt mit Corona ein ganz anderes. ­Eltschinger: «Wenn der Kellner mit einer Schutzmaske zum Tisch kommt und nach dem Bestellen erst mal die Speisekarte desinfiziert, dann wird die Atmosphäre nicht die gleiche sein wie vorher.»

Ein Kellner mit Schutzmaske? «Merci! Da habe ich grad keinen Hunger mehr!» So beschreibt Mike Hersberger vom Berner Gastro­unternehmen Taberna spontan die Heraus­forderung von Corona-Zeiten im Restaurant. Dennoch ist er froh, «wieder offen zu haben», und zuversichtlich: «Wir haben gottlob vier Gartenbeizen und viel Platz.» Was genau passieren werde, ob die Leute überhaupt Lust hätten, auswärts essen zu gehen, würden die nächsten ­Wochen zeigen. Auch Remimag-Geschäftsführer Eltschinger ist gespannt. Im Lockdown hätten alle gemerkt, dass sie auch ohne Auswärtsessen überleben könnten, sagt er. Eltschinger ist deshalb überzeugt: Die Gäste würden nicht von null auf hundert in die Beizen strömen.


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