Wegen Corona-Krise:

Der erste 1. Mai ohne Fredi

Marie-Josée Kuhn

work-Chefredaktorin Marie-Josée Kuhn über den ersten 1. Mai ohne rote Falken, schwarzen Block, Risotto-Bombe und Fredi.

An meinem Gestell kleben sie alle: die letzten zehn roten Maibändel vom Umzug. Stoffliche Zeitzeugen der Gewerkschaftsbewegung before Corona. Und jetzt das: der erste 1. Mai ohne Umzug, Festwirtschaft, Risotto-Kanone, Lenin-Cup und ohne «Völker, hört die Signale!». Ganz ohne Hans Stöckli. Ohne rote Falken, ohne schwarzen Block, ohne revolutionären Aufbau, ohne Dem-Kurd, Collectivo Sin-Papeles und ohne FAU, KKP, Juso, TKP/ML, GSoA, VPOD. Ganz ohne Linggi Schnure. Aber vor allem: der erste 1. Mai ohne Fredi.

ALTE BEKANNTE. Der Fredi und ich sahen uns früher täglich im WOZ-Büro. So wie auch der Hänu und ich. Und mit Marianne war ich jahrelang in einer Weiber-WG. Mit Catherine in einer Bürogemeinschaft. Dort war auch Silvia. Bettina kenn ich vom besetzten Frauenhaus. Und Mauro vom Anti-Busipo-Grüppli. Jeanne, Gaby, Yvonne, Tina, Christine, Brigitte, Iris, Andrea, Veronika, ­Petra aus der Frauenszene, der Frauendisco, der Reitschule. Und Ursula traf ich im Weiberkegelclub Stramme ­Waden. Und Bea­trice? Die kenn ich einfach. Schon lange. Und Hänse von der Uni. Marianne war damals, glaubs, auch im Weiberrat. Und den Willy kenn ich, weil den kennt man einfach, weil: «Wählt Dr. Willy Egloff in den Stadtrat, ihre PdA!».

APERO-ZEIT. Heiner kenn ich von Catherine. Hene vom Klartext. Teresa, Hilmi, ­Doris, Vania und Nico von der Unia. Den Werner von Vania. Renat vom Smuv und Renate vom Frauenstreik. Und den Beat? Den Beat? Den Beat? Woher kenn ich nur schon wieder den Beat? Logisch, Beat kenn ich vom 1. Mai. So, wie Ron, Fritz, Chrigu und Max auch.
So? fragen wir dann immer. Oder: Und? Immer noch Lehrgotte? Immer noch Single? Immer noch geschieden? Was, schon pensio­niert? Schon Grossvater? Hey, wieso gehst du an Krücken? Was, der ist auch gestorben? Lungenkrebs? Und ui! Hans hatte einen Herzinfarkt? Der ist ja gar nicht so alt? Ah, doch schon 60! Dein Enkelkind? Wie süss! Nein, das ist jetzt aber nicht deine Mutter, oder? Find ich auch toll, all die Jungen heute! Durst? Apéro? Yes, schliesslich ist immer irgendwo auf der Welt Apéro-Zeit!

ABMACHEN. Weisst du noch, wie der André Reden schwingen konnte? Weisst du noch, unser selbstgestricktes AHV-Transpi? Weisst du noch, als wir Frauen den 1.-Mai-Umzug anführen wollten? Wie die von der Arbeitermusik Bümpliz geschaut ­haben? Wann das war? Vor 10, 20, vor 30 Jahren? Mein Gott, wir werden alt! Weisst du noch, als es die Frauenbeiz gab? Als es noch Faxe gab? Als es noch keine Handys gab? Als wir schwarzen Lippenstift hatten? Ein Arafat-Tuch? Hennahaare? Als wir noch rauchten? Schon zum Aufstehen? Sag nichts! Und hey, aber sicher machen wir wieder mal ab! Versprochen! Und logo, vor dem nächsten 1. Mai!

ABGESAGT. Und jetzt wird all das nicht sein. Keine Begegnungen, kein Buschtelefon, keine Küsse, keine Erinnerungen und keine News. 2020, das ist der erste 1. Mai ohne Fredi. Und das ist doch sehr traurig.

Ich werde euch alle vermissen! Schreibt ihr mir ein Whatsapp? Schickt ihr mir ein Selfie? Oder zwei? Aber bitte, bitte vor dem nächsten 1. Mai!

1 Kommentar

  1. Fredi Lerch

    Liebe Marie-Josée
    danke für das freundliche Zeichen. Ich war gestern unterwegs, habe im Zug im Work gelesen, aber die letzte Seite übersehen. Erst ein Mail am späten Abend hat mich – mit der Bemerkung «fast eine Liebeserklärung» – darauf hingewiesen. Ja, wir sind uns am 1. Mai immer wieder begegnet, ich erinnere mich (auch an Thomas). Ob ich nächstes Jahr dabei sein kann, weiss ich noch nicht. Möglich, dass es bis dahin Ausgangsverbote für all jene gibt, die sich von Bill Gates nicht impfen lassen wollen. Habe einiges über jenen Grössenwahnsinnigen gelesen und ab und zu «Geit’s no?» durch die Wohnung gerufen. Und weisst du, wie das Echo von den Wänden kam? «Gates? No!»
    Es grüsst dich herzlich der Risikogrüppeler
    fredi

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