Filmemacher Samir fiebert mit der neuen irakischen Jugendbewegung mit und sagt:

«In Bagdad herrschen 68er Zeiten»­

Patricia D'Incau und Marie-Josée Kuhn

Seit 4 Monaten rebelliert die irakische Jugend gegen die religiösen Machthaber im Land – und gegen die Einmischung der USA und Irans. Eine Bewegung, die es so noch nie gegeben hat, sagt Filmemacher Samir.

«WIR SIND ALLE IRAKI»: Aus den Jugendprotesten ist im Irak eine landesweite Volksbewegung gegen religiöse Parteien und Korruption geworden, so auch in der Stadt Basra. (Fotos: Getty)

Samir, im Irak protestieren gerade ­Tausende ­Menschen gegen die Regierung. Was ist da los?
Samir: Auf dem Tahrir-Platz in der Hauptstadt Bagdad herrschen ein bisschen 68er Zeiten: Die Jungen singen «Bella ciao» mit eigenen Texten, zeichnen Karikaturen, malen Wandbilder, es gibt Theater, Kunst, Musik. Das macht die Proteste auch so aussergewöhnlich.

Zu Beginn forderten die Demonstrierenden: «Schluss mit der Korruption!» Die Polizei versuchte, die Bewegung niederzuschlagen. 500 Menschen sind inzwischen tot, etwa 20’000 verletzt. Aber es ist etwas Interessantes passiert: Die Demonstrantinnen und Demonstranten wurden selber nicht auch gewalttätig, aber sie änderten ihre Forderung in: «Die Regierung muss weg!» Woche für Woche verfeinerten sie diese Parole, konkretisierten sie. Jetzt heisst es: «Wir brauchen eine neue Verfassung!» Oder: «Wir brauchen einen unabhängigen Gerichtshof!»

Filmemacher Samir: Bagdad – Zürich – Bagdad und retour

Samir wurde 1955 in Bagdad geboren. Der ­Vater war Iraki, die ­Mutter Schweizerin. Als Samir 6 Jahre alt war, zog die Familie in die Schweiz. Nach einer ­Lehre als ­Typograph ­wurde er ­Kameramann und Regisseur. In seinem Dokumentarfilm «Iraqi Odyssey» zeichnete er 2014 die ­Geschichte seiner Familie und jene des Iraks nach. Samirs aktueller Film «Baghdad in my Shadow» läuft zurzeit im Kino.

Und wer sind diese Unzufriedenen?
Es sind vor allem junge Menschen zwischen zwanzig und dreissig. Viele von ihnen sind gebildet und haben studiert. Weil es im Irak aber keine Arbeit gibt, schlagen sie sich mit Gelegenheitsjobs durch.

Also Jugendliche aus der Mittelschicht?
Bei weitem nicht nur! Ein grosser Teil der Demonstrierenden kommt aus der Unterschicht. Das sind Menschen, die nicht zur Schule gingen, sondern schon als Zehnjährige Geld verdienen mussten. Dass sich diese jungen Menschen – ob aus der Mittel- oder aus der Unterschicht – miteinander verbunden haben und Seite an Seite protestieren, das ist schon speziell!

Wie kam das?
Anfang Oktober demonstrierten in Bagdad Tausende Hochschulabsolventinnen und -absolventen, weil es im Irak für sie fast unmöglich ist, einen Job zu finden. Ihre Demonstration wurde brutal niedergeschlagen. Es gab viele Verletzte. Da das in der Nähe eines Armenquartiers geschah, kamen von dort die Tuktuk-Fahrer mit ihren dreirädrigen Töffs, um die Menschen ins Spital zu bringen. Die Tuktuks sind die Taxis der ärmeren Leute. Weil sie den Demonstrierenden halfen, wurden sie dann ebenfalls von der Polizei attackiert. Mit dem Resultat, dass die Fahrer selbst auf die Strasse gingen, um gegen die Polizeigewalt zu demons­trieren. Auch ihren Protest schlug die Polizei nieder. Noch brutaler. Es gab die ersten Toten.

Das wiederum passierte in der Nähe von Karrada, dem Kunst- und Kulturviertel von Bagdad. Die Menschen dort sind langjährige Aktivistinnen und Aktivisten. Sie schlossen sich den Protesten der Tuktuk-Fahrer an und verbreiteten die Bilder von der Polizeigewalt im Internet. Diese gingen wie ein Feuer durch den ganzen Irak. Und plötzlich waren alle gemeinsam auf der Strasse: die Studierten, die Kulturaktivistinnen und -aktivisten, die Mittelschicht und die Unterschicht.

«Aus den Jugendprotesten ist eine Volksbewegung geworden.»

Sie sprechen ausschliesslich von einer Jugendbewegung. Was ist mit den älteren Leuten?
Bei vielen Älteren geniessen diese Jungen auf der Strasse unglaubliche Sympathie. Als es im Winter kalt wurde, schrieb eine ältere Dame auf Facebook: «Ich sammle Decken für diese Jungen, die da frieren auf dem Tahrir.» Und die Menschen haben Tausende, Abertausende Wolldecken gespendet! Andere Frauen haben sich mit ihren Nachbarinnen zusammengeschlossen und gingen auf den Tahrir, um zu kochen. Sie fanden: «Unsere Jungen sollen nicht hungern.»

Jeweils am Freitag und Samstag strömen auch die Älteren auf den Platz, um die Konzerte der Jungen zu hören, Theater zu schauen. Die Älteren fühlen sich dort auch aufgehoben. Und man kann sagen: Aus den Jugendprotesten ist inzwischen eine Volksbewegung geworden.

Eine Volksbewegung, die offenbar auch putzt?
Ja! Nach der ersten Protestwoche fing sie an, ­selber aufzuräumen, weil es überall dreckig war. Zuerst wollten die Jungen nur die Tränengaspatronen wegräumen, die die Polizei auf sie geschossen hat. Aber bald schon räumten sie den ganzen Platz auf. Jetzt gibt es Putzkommandos in der ganzen Stadt. Sie sagen: «Wir müssen zu unserer Stadt schauen.» Sie kümmern sich, das habe ich noch nie so gesehen. Die Bewegung agiert in Selbstorganisation, sie hat ihr eigenes Kommunikationsnetz aufgebaut. Ihr eigenes Zeltdorf auf dem Tahrir. Der Platz ist jetzt seit vier Monaten quasi besetzt. In der Grösse etwa der Berner Innenstadt.

Die Losung der Tahrir-Gemeinschaft lautet: «Wir sind alle Iraki.» Und das ist nicht nationalistisch gemeint. Sondern heisst: Wir sind nicht Schiiten, wir sind nicht Sunnitinnen, wir sind nicht Christen, wir sind nicht Kurdinnen. Sondern alles Iraki, und wir wollen uns nicht mehr spalten lassen. Das ist eine ganz klare Abgrenzung von den religiösen Parteien. Und die Bewegung wehrt sich auch klar gegen die Einmischung Irans und der USA. Da ist sie radikal. Sie wollen einen unabhängigen Irak, ohne Korruption und Machtkämpfe.

BESETZT. Auf dem Tahrir-Platz in Bagdad hat die Protestbewegung ihr eigenes Zeltdorf eingerichtet. (Foto: Getty)

Was unterscheidet die aufbegehrende Jugend denn von der Elterngeneration?
Sie sind in einem Irak aufgewachsen, der nichts mehr zu tun hat mit dem Irak ihrer Eltern. Sie wurden vielleicht noch in der Diktatur von Saddam Hussein geboren, aber erlebt haben sie sie nicht mehr. Sie kennen eigentlich nur den Irak, der von den USA besetzt wurde und später, als die schiitischen Politiker aus dem iranischen Exil zurückkamen, unter religiösen Einfluss gestellt wurde. Sie kennen einen Irak mit guten Privatschulen und Universitäten, in die die heutigen Machthaber ihre Kinder schicken. Einen Irak aber auch, in dem sonst nichts funktioniert: weder die Wasserversorgung noch die Elektrizität noch die Müllabfuhr. Einfach nichts.

Das kommt natürlich auch daher, dass die USA mit ihrer Invasion 2003 alles zerstört haben. Für die Jungen sind die Amerikaner deshalb schlicht die Eindringlinge. Niemand ist proamerikanisch. Aber sie halten auch nichts von Iran und nichts von den irakischen Machthabern. Nichts von ihrer Politik, die stark von der Religion geprägt ist. Gleichzeitig sind diese Jungen auch Teil der globalisierten Gesellschaft. Wuchsen mit Dutzenden Fernsehsendern auf, mit Smartphones. Sie wissen, was draussen in der Welt passiert.

Die Losung der Tahrir-Gemeinschaft lautet: «Wir sind alle Iraki.»

Die Proteste richten sich also auch gegen die Religion?
Das ist das wirklich Revolutionäre an dieser Jugendbewegung: Sie sind gegen den Einfluss der Religion in die Politik. Das bedeutet nicht, dass die einzelnen, die da mitmachen, nicht religiös wären. Aber sie haben gesehen, dass die religiösen Politiker genauso korrupt sind wie die anderen. Und sie hinterfragen die traditionellen Regeln, etwa zwischen Mann und Frau. Die religiösen Führer sagen ja, dass junge Frauen so und so sein müssen, sonst seien sie Prostituierte. Das akzeptieren die protestierenden Jungen nicht mehr. Sie können diese Führer einfach nicht mehr ernst nehmen.

Ist die irakische Bewegung auch f­eministisch?
Es ist nicht so, dass jetzt die Gleichheit der Frau an der obersten Stelle steht. Aber: Die Jugendlichen aus den Unterschichten, die gelernt haben, dass ein Mann besser sei als eine Frau, haben auf einmal mit jungen Aktivistinnen zu tun, die kein Kopftuch tragen, aber sich für sie einsetzen. Das wiederum ermutigte auch Tausende Frauen aus den Armenquartieren dazu, auf die Strasse zu gehen. Mit Kopftuch und Abaya! Und die Parole war: Wir sind für unsere Schwestern und unsere Brüder, und wir sind alle gleich.
Es gibt auf dem Tahrir übrigens auch Pa­trouillen, Aktivisten, die schauen, dass die Frauen nicht sexuell bedrängt werden.

Sie sagen, im Irak funktioniere nichts, aber er ist doch ein reiches Land mit den grössten Ölvorkommen der Welt!
Ja. Und das irakische Öl ist immer noch verstaatlicht. Zwar haben die USA versucht, das zu privatisieren, aber der Protest in der Bevölkerung war zu stark. Heute sind im Irak vor allem englische, französische, russische und chinesische Firmen im Geschäft. Sie können sich Förderlizenzen für Öl kaufen, aber alles läuft über die irakische Regierung.

Stellen Sie sich vor: Jedes Jahr verdient der Irak etwa 100 Milliarden Dollar mit Erdöl. Bei all diesem Geld, das da in den letzten Jahren geflossen ist, hätte der Irak eine prima Infrastruktur aufbauen können. Doch das Geld ist einfach verschwunden. Und das wissen die Leute. Auch die Protestierenden wissen es. Die Regierung wird von ihnen deshalb nur noch «Haramyin» genannt, «Diebe».

Wer sind denn diese Machthaber?
Es gibt im Irak keine einheitliche und starke Regierung. Aber es gibt verschiedene Fraktionen, die sich den Staat quasi aufgeteilt haben. Der Süden wird zum Beispiel von drei grossen schiitische Fraktionen kontrolliert, die alle mehr oder weniger von Iran beeinflusst werden. Im Norden gibt es ein kurdisch regiertes Gebiet, das ist quasi ein Staat im Staat. Und das alles zeigt sich auch in der Hauptstadt Bagdad: Die schiitischen Fraktionen und die Kurden haben je ein eigenes Quartier, durch das du einfach nicht durchkommst. Sie sind abgeriegelt. Und sind nur für die jeweils «eigenen» Leute ­offen.

Das tönt kompliziert …
… ist es auch!

Wieso wissen wir im Westen eigentlich so wenig über den Irak?
Wir haben es hier mit einem Überlegenheitsdünkel des Westens zu tun. Die hier herrschende Meinung ist: Wir im Westen sind gebildet, wir sind zivilisiert – im Gegensatz etwa zu den Ländern im Nahen Osten. Dazu kommt, dass die westlichen Medien auch die immergleichen Stereotype reproduzieren. Über den Irak gibt es vor allem Kriegsbilder, Bilder von Zerstörung und Tod. Nie wird gezeigt, dass der Irak eigentlich ein grünes Land ist, mit Millionen von Bäuerinnen und Bauern. Fast nie ist die Zivilbevölkerung zu sehen. Und es ist auch kein Zufall, dass fast nie darüber geschrieben wird, dass es im Irak schon vor der Schweiz Fernseher gab.

Am diesjährigen «Reclaim Democracy»-Kongress des linken Think-Tanks «Denknetz» analysiert Samir zusammen mit der irakischen Schauspielerin und Aktivistin Zahraa Ghandour die Jugendproteste im Irak.

27. Februar, 12 bis 14 Uhr im Volkshaus Zürich, www.reclaim-democracy.org


Irak: Die Chronolige

Mit 38 Millionen Einwohnern ­gehört der Irak zu den fünf grössten Ländern der arabischen Welt. 97 Prozent der Bevölkerung sind muslimisch. Über 60 Prozent sind Schiiten und zwischen 32 und 37 Prozent Sunniten, darunter die meisten muslimischen Kurden.

1958: Unabhängigkeit: Sturz des probritischen Königs, Ausrufung der Republik.

1968: Die Baath-Partei kommt an die Macht: sie verbindet arabischen Nationalismus und revolutionären Säkularismus mit den Elementen eines Sozialismus. Saddam Hussein leitet in der neuen Regierung die Verstaat­lichung westlicher Ölfirmen ein und entwickelt das Land zu einer ­regionalen Militärmacht.

1979: Saddam Hussein wird Staatspräsident und Regierungschef.

1980: Erster Golfkrieg. Saddam Hussein, vom Westen und den USA unterstützt, lässt Iran ­angreifen.

1990: Zweiter Golfkrieg. Irak besetzt Kuwait. Zwischen Januar und März 1991 vertreibt eine US-­geführte Koalition Saddams Truppen aus Kuwait. Die Uno verhängt ein Embargo gegen den Irak. Die Gesundheitsversorgung bricht zusammen, Tausende sterben.

2003: Beginn des völkerrechtswidrigen Irakkriegs. Die Truppen der USA und Grossbritanniens ­besetzen (unter falschen Beschuldigungen) das Land. Saddam wird festgenommen und 2006 hin­gerichtet.

2010: Der Grossteil der US-Kampftruppen verlässt den Irak.

2014: Der IS ruft im Irak das ­Kalifat aus. Die irakische Armee und schiitische Paramilitärs ­drängen den IS drei Jahre später schliesslich zurück.

2018: Bei den Parlamentswahlen gewinnen zwei unterschiedliche schiitische Listen vor der Liste des ebenfalls schiitischen Regierungschefs Haidar al-Abadi.

Schreibe einen Kommentar

Bitte fülle alle mit * gekennzeichneten Felder aus.