Das rote Bümpliz präge den Westen Berns immer noch, sagt Hansruedi Blatter. Dies, obwohl sein «Dorf» heute eine SVP-Hochburg sei.
EINGEFLEISCHTER BÜMPLIZER. Gewerkschafter Hansruedi Blatter. (Foto: Matthias Luggen)
work: Hansruedi Blatter, war das rote Bümpliz wirklich mehr als rote Folklore?
Hansruedi Blatter: Auf jeden Fall. Aber zuerst muss man sagen, wie es entstehen konnte: Bereits die Gründung der SP Bümpliz wurde massgeblich von Gewerkschaftern angestossen. Es gab immer eine sehr enge Zusammenarbeit, sowohl im Arbeiterkartell als auch in all den Arbeitersport- und -kulturvereinen. Und zwar sehr lange: Noch Anfang der 1980er Jahre hat die SP Bümpliz eine eigene 1.-Mai-Feier organisiert. Erst danach ist man gemeinsam hinter der Arbeitermusik her die fünf Kilometer bis auf den Bundesplatz gezogen zur Feier in der Stadt.
Du betonst die kulturelle Zusammenarbeit. Wie war es in der Politik?
Obschon sich die Gewerkschaften als konfessionell neutral und parteipolitisch unabhängig verstehen, ist man jahrzehntelang zusammen mit der SP in die Wahlen gezogen. Bei städtischen Wahlen war es zum Beispiel so, dass die Gewerkschaften auf der SP-Liste die Hälfte der Linien bekamen. Wer aus den Branchengewerkschaften kandidierte, bestimmte danach der Gewerkschaftsbund der Stadt. Voraussetzung für diese Kandidatinnen und Kandidaten war stets, dass sie SP-Mitglied waren. Wegen des hohen Organisationsgrads im Westen hat das manchmal dazu geführt, dass Bümpliz-Bethlehem im Stadtparlament fast die Mehrheit der SP-Fraktion gestellt hat. Seit den siebziger Jahren ist es ein bisschen komplizierter geworden, weil damals mehrere neulinke Gruppierungen entstanden sind. Heute arbeitet der Gewerkschaftsbund auch mit dem Grünen Bündnis zusammen.
Was ist vom roten Bümpliz geblieben?
Das rote Bümpliz prägt Berns Westen bis heute. Die Gewerkschaft Smuv zum Beispiel (eine Vorgängergewerkschaft der Unia, Red.) hat mit der Genossenschaft für Metallgewerbe einen eigenen Metallverarbeitungsbetrieb aufgemacht. Dazu kam die Schreiner- und Zimmereigenossenschaft, die Hoch- und Tiefbaugenossenschaft oder die Gipser- und Malergenossenschaft. Letztere gibt es bis heute.
Das sind lauter Produktionsgenossenschaften …
… auch Baugenossenschaften haben eine wichtige Rolle gespielt, bei denen die Initiative von SP- und Gewerkschaftsleuten ausgegangen ist. Zu erwähnen ist zum Beispiel die gewerkschaftliche Immobiliengesellschaft Promet AG. Dann die Wohnblöcke der Eisenbahner-Baugenossenschaft. Oder die Baugenossenschaft der Schreiner und Zimmerleute, die hinter dem Tscharnergut die Arbeitersiedlung Bethlehemacker gebaut hat. Es waren immer wieder auch solche Baugenossenschaften, welche die ehemals privaten Güter wie Tscharnergut oder Fellergut von der Stadt im Baurecht übernommen haben, um dort Wohnungen bauen zu können.
«Viele denken, Bern zeigen wir’s jetzt mal!»
Trotz alldem ist Bümpliz heute eine Hochburg der SVP.
Für diesen Wandel gibt es mehrere Gründe: Erstens sind bei den grossen Industriebetrieben wie von Roll, Tobler oder der Leinenweberei sehr viele Arbeitsstellen weggefallen. Ich erinnere mich, dass früher viele Arbeiterinnen und Arbeiter keinen Lehrabschluss hatten. In Anführungszeichen gesprochen: diese «klassischen Hilfsarbeiterinnen und Hilfsarbeiter» gibt es in der Industrie kaum mehr. Zweitens: Die Hochhaussiedlungen sind in die Jahre gekommen und werden totalsaniert mit der Folge, dass die Preise steigen. Zudem ist in Brünnen ein ganzes Quartier gebaut worden, das von der Preisklasse her für kleinere Einkommen nicht erschwinglich ist.
Leute mit kleinem Einkommen sind ausgeschlossen oder werden durch die Renovation vertrieben.
Das ist so. Und dann gibt es noch einen dritten Punkt: Bümpliz hat einen Ausländeranteil von 33,3 Prozent. Dieser Teil der Bevölkerung arbeitet zwar hier, ist aber – wie die Fabrikarbeiter zu Looslis Zeiten – nicht stimmberechtigt. Ich habe die Entwicklung als Gewerkschaftssekretär erlebt: In den siebziger, achtziger, neunziger Jahren haben wir immer Wahlempfehlungen verschickt und deshalb von den Branchengewerkschaften die Adressen ihrer Stimmberechtigten bekommen. Es wurden mit den Jahren deutlich weniger, obwohl die Mitgliederzahlen dank den nicht stimmberechtigten ausländischen Neumitgliedern nur wenig sanken. Mit dieser Entwicklung hat sich auch das Stimm- und Wahlverhalten im Westen verändert. Heute ist es so, dass Bümpliz auch bei unbestrittenen politischen Vorlagen stets den grössten Nein-Anteil der Stadt aufweist.
Wie kann man das erklären?
Es kommt mir vor, wie wenn viele hier denken würden: «Dieser Stadt Bern zeigen wir’s jetzt mal.» Ich höre hier oft: «Man hat in Bümpliz die Resag gebaut, das Recycling- und Sortierwerk. Man hat hier die Wohnzone Buech für sesshafte Fahrende gemacht. Man will für die Stadtnomaden eine Hüttendorfzone einrichten. Aktuell plant die BLS im Chliforst ihre neue Werkstätte.» Clevere SVP-Politikerinnen und Politiker schüren damit Ressentiments auch bei alteingesessenen Bümplizern, die nicht SVP-Mitglieder sind, bis diese schliesslich sagen: «Alles, was die Stadt selber nicht will, macht sie bei uns hier draussen. Jetzt reicht’s!»
Du bist 1948 in Bümpliz geboren. Fühlst du dich hier noch zu Hause?
Ich sage auch heute noch: Ich gehe schnell ins Dorf, wenn ich in der Nähe von Post oder Kirche etwas zu tun habe. Irgendwie bin ich bis heute stolz, Bümplizer zu sein.
Hansruedi Blatter: «Bei 40-Stunden-Woche schon dabei»
Hansruedi Blatter (* 1948) wächst in einer Arbeitersiedlung im Bethlehemacker bei Bümpliz auf. Sein Vater ist Schreiner und Gewerkschafter. Er selber lernt Buchdrucker im Kleinbetrieb Berthoud AG, macht die Kunstgewerbeschule und engagiert sich in der Jungbuchdruckergruppe des Typographenbunds. Nach Wanderjahren wird er mit 23 Adjunkt im Sekretariat der Gewerkschaft Typographia Bern. Als Mitglied der Tarifkommission nimmt er in den siebziger Jahren an den Verhandlungen um den GAV der Typographen teil: «Ich bin dabei gewesen, als wir die 40-Stunden-Woche erreicht haben.»
FELLERGUT. In der damaligen Rezession kämpft er insbesondere für die Schriftsetzerlehrlinge, die nach Lehrabschluss zum grösseren Teil vor der Arbeitslosigkeit stehen: Die Verwaltungen sparen zuerst bei den Drucksachen, und der Bleisatz wird damals durch den Fotosatz ersetzt. 1980 wechselt Blatter als Sekretär zum städtischen Gewerkschaftskartell – heute Gewerkschaftsbund Bern und Umgebung. 1981 bis 1985 sitzt er für die SP im Berner Stadtparlament, 1985 bis 2002 im kantonalen Grossen Rat. 2008 wird er pensioniert. Heute lebt er mit seiner Frau im Fellergut in Bümpliz.