Go West: Vor 100 Jahren gemeindete die Stadt Bern ein Bauerndorf ein

Bern Bümpliz: Roter Stadtteil wird bunt

Fredi Lerch

Erst ein Bauerndorf, dann ­ein Arbeiterviertel. Jetzt Multi­kultistadtteil und SVP-Hochburg. Mit 33,3 Prozent hat Berns Westen den höchsten Anteil an Migrantinnen und Migranten. Doch sie können nicht stimmen und wählen. Damit ist Bümpliz wieder dort, wo es vor 1908 war.

ALT NEBEN NEU: Ein Hochhaus im Schwabgut neben einem Chalet (rechts). (Fotos: Matthias Luggen)

In Bümpliz beginnt das 20. Jahrhundert am 26. Dezember 1908. Es ist ein Samstagnachmittag, im Sternensaal findet die Gemeindeversammlung statt. Wie gewöhnlich sind die Bauern und ein paar Gewerbler weitgehend unter sich: In den ­Fabriken wird an diesem Stephanstag gearbeitet. Das ist von den Bauern auch so gewollt, denn sie wollen die politische Mitsprache der Arbeiterschaft verhindern. Aber heute ist der Wurm drin. Schon beim ersten Traktandum meldet sich der vor wenigen Jahren zugezogene Journalist C. A. Loosli (siehe Box unten), «um die Ausführungen des Herrn Präsidenten in langer Rede zu widerlegen». Und so von Traktandum zu Traktandum: endlose Widerreden, Änderungs- und Ablehnungsanträge. Man kommt nicht vorwärts. Als sich gegen Abend die ersten Bauern erheben, weil sie in den Stall müssen, ist man noch längst nicht fertig.

Bauer um Bauer geht, Arbeiter um Arbeiter trifft aus der Fabrik im Sternensaal ein. Gegen 19 Uhr stellt der Buchdrucker Albert Benteli, ein Freund Looslis, unter «Verschiedenes» den Antrag, Gemeindeversammlungen seien ab sofort am Sonntagnachmittag durchzuführen. Der Antrag wird mit 40 zu 22 Stimmen angenommen. Seit diesem Tag können die Arbeiterinnen und Arbeiter in Bümpliz in Gemeindeangelegenheiten mitreden.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ist Bümpliz ein Bauerndorf mit einer Schmiede, mit Bäckereien, Metzgereien und einigen Gewerbebetrieben. Das Wasser des Dorfbachs betreibt eine Mühle und eine Sägerei. Trotzdem lassen sich in diesen Jahren sehr viele Arbeiterfamilien in Bümpliz nieder, denn in der benachbarten Stadt Bern wachsen die Industriebetriebe: Wander mit der Ovomaltine, Chocolat Tobler mit der Toblerone, die Druckmaschinenfabrik Wifag, die Eidgenössische Waffenfabrik, die Eisenwerke von Roll, die Leinenweberei, die Hasler AG. Diese Firmen brauchen so viele Büezerinnen und Büezer, dass der Ausbau der städtischen Quartiere nicht reicht. Darum wächst auch Bümpliz schnell.

Für das Dorf bedeutet diese Entwicklung massiv steigende Infrastrukturkosten, etwa für neue Schulhäuser. Aber das Geld fehlt, weil Arbeitende damals in jener Gemeinde steuerpflichtig sind, in der sie arbeiten: Bern hat die Steuern, Bümpliz die Kosten.

In Bümpliz sind sich von den alteingesessenen Bauern über die Gewerbearistokratie der nicht selten einigermassen sozial denkenden Patrons bis zur Arbeiterschaft alle einig: Wenn Bümpliz als Wohnort derart wichtig geworden ist für die städtische Industrie, dann soll die Stadt dem Dorf helfen, die Infrastrukturkosten zu tragen. Der Weg führt über die Eingemeindung von Bümpliz in die Stadt auf den 1. Januar 1919. Auf diesen Termin erhöht Bern den Steuersatz um 0,2 Promille und beginnt, in die Infrastruktur des Westens zu investieren: Seit November 1924 zum Beispiel verkehrt ein Bus zwischen Bümpliz und der Stadt. Umgekehrt gewinnt Bern durch die Erweiterung des Gemeindegebiets beträchtliche Landreserven.

Solange in Bümpliz nur jene Eingewanderten stimmen dürfen, die einge­bürgert sind …

BÜMPLIZ WIRD ROT

Auch in diesem neu entstandenen Stadtteil VI geht die Industrialisierung schnell voran: Die Betriebe hier heissen Gfeller AG (Telefonapparatebau, später Teil der Ascom), Styner + Bienz (Metallverarbeitung, heute Adval Tech), Neher (Bürobedarf, heute Biella), die Kabinenbaufirma Gangloff oder die Textilfabrik Schild. Dazu kommen Betriebe von Italienern, die nach den Eisenbahnbauten Bern–Lausanne (1860 mit dem Bahnhof Bümpliz Süd) und Bern–Neuenburg (1901 mit dem Bahnhof Bümpliz Nord) im Dorf geblieben sind – etwa die bis heute tätige Baufirma Fontana.

Mit der Eingemeindung wird die Bümplizer Arbeiterschaft in die städtische Arbeiterunion – seit 1932 Gewerkschaftsbund – eingegliedert. ­Koordiniert vom 1922 gegründeten Arbeiterkartell Bümpliz, arbeiten im Westen die Gewerkschaften und die Sozialdemokratische Partei eng zusammen. Gemeinsam bauen sie ein Netzwerk von sogenannten Vorfeldorganisationen auf. Spätestens um 1930 ist das rote Bümpliz Wirklichkeit geworden.

Konkret wird 1911 der Sängerbund gegründet, 1916 der Arbeiter-Radfahrer-Verein und der sozialistische Frauenverein, 1917 der Arbeiterfrauenchor, 1918 der Arbeiter-Turnverein Satus, 1926 der Arbeiter-Turnerinnenverein, 1929 die Arbeiter­musik. Daneben gibt es einen sozialistischen Abstinentenbund, die Arbeiterfussballer, die Naturfreunde und für die Jugendlichen die Roten ­Falken. Es gibt einen Arbeiter-Bildungsausschuss, eine Arbeiterbibliothek, und 1948 führt das Arbeiterkartell zum ersten Mal die Bümplizer Chilbi durch, die es bis heute gibt: 2000 hat der politisch neutrale Bümplizer Chilbi-Verein das Arbeiterkartell bei der Organisation abgelöst. Letzthin fand die Chilbi zum 72. Mal statt.

… ist es bloss eine Behauptung, das rote Bümpliz sei unter­gegangen.

BÜMPLIZ WIRD BUNT

Die Wohnraumknappheit bleibt ein chronisches Problem. Anfang der 1940er Jahre beginnt man, die ersten der sehr bescheiden gebauten Arbeitersiedlungen in Bümpliz Bethlehem abzureissen und neu zu überbauen. In der Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg geht der Bauboom aber erst richtig los. Jetzt entstehen zunehmend Hochhaussiedlungen. Bis in die 1980er Jahre werden in Bümpliz und in Bethlehem Tausende neuer Wohnungen gebaut. Die Bevölkerung verdoppelt sich.

Heute lebt ein Viertel der Stadtberner Bevölkerung in Bern Bümpliz. Rund 35’000 Menschen aus über vierzig Nationen. Das zeigt sich auch am Strassenbild: Türkische, tamilische und afrikanische Shops säumen die Hauptstrassen. Mit 33,3 Prozent hat der Westen Berns den höchsten Anteil an Migrantinnen und Migranten. Doch sie können nicht stimmen und wählen. Damit ist Bümpliz heute wieder dort, wo es vor 1908 war, bevor Schriftsteller Loosli erreicht hatte, dass auch die Büezerinnen und Büezer an die Gemeindeversammlungen kommen können.

2010 scheiterte mit der Initiative «zäme läbe – zäme schtimme» die fakultative Einführung des Ausländerstimmrechts auf kommunaler Ebene mit 72 Prozent Nein-Stimmen – die Stadt Bern nahm mit 51 Prozent an, der Stadtteil VI lehnte mit 69,6 Prozent ab. Inzwischen ist Bümpliz eine SVP-Hochburg (siehe Interview unten).

Trotzdem wird etwa die SP Bümpliz zusehends bunter: 2000 wählte sie den damals 21jährigen Maschinenzeichner Timur Akçasayar zum neuen Sektionspräsidenten. Weil er sich aber erst kurz nach der Wahl einbürgern liess, lief die örtliche SVP-Sektion Sturm gegen die Wahl eines «Türken». Heute ist Akçasayar Teil der SP-Fraktion des Berner Stadtparlaments. Aus der SP Bümpliz sass dort bis 2018 zum Beispiel Rithy Chheng, Kind von Indochinaflüchtlingen, 1980 geboren in einem Aufnahmecamp in Thailand. Als Sektionspräsident ist Akçasayar unterdessen abgelöst worden von Szabolcs Mihalyi, Sohn von Ungarnflüchtlingen, dessen Grossvater – ein Katholik mit jüdischen Eltern – in einem nationalsozialistischen KZ ermordet worden ist.

Solange in Bümpliz nur jene Eingewanderten stimmen und wählen dürfen, die eingebürgert sind, ist es bloss eine Behauptung, das rote Bümpliz sei untergegangen.

* Fredi Lerch ist Autor und Journalist in Bern. Von 2005 bis 2009 hat er zusammen mit Erwin Marti im Rotpunktverlag die Werkausgabe von Carl Albert Loosli heraus­gegeben. www.fredi-lerch.ch

100 Jahre Bern Bümpliz: Film über Loosli zum Jubiläum

EINZELKÄMPFER: C. A. Loosli in seinem Atelier. (Foto: Walter Studer)

Am Samstag, 31. August, feiert Bern «100 Jahre Bern Bümpliz». Am offiziellen Festakt (10.30 Uhr) spricht unter anderen der ­Berner Stadtpräsident Alec von Graffenried. Auf dem Programm stehen da­neben Kulturrundgänge entlang der Kunst im ­öffentlichen Raum und die Vernissage des Buchs «Bümplizer Geschichte(n), Band 2» vom Ortsarchivar Max Werren. Dazu gibt es einen Märit, ein Kinderprogramm, eine Podiumsdiskussion zum Thema «100 Jahre zurück, 100 Jahre vorwärts» und abends eine Sternennachtparty.

FILMPREMIERE. Besonders gespannt darf man auf den zweiteiligen Filmessay von Martin Dreier und Werner Wüthrich sein, der im Rahmen dieses Festes Premiere hat: «Bümpliz und die Welt». Der erste Teil (9.30 Uhr) stellt die Eingemeindung von 1919 ins Zentrum, der zweite Teil (14.30 Uhr) unter dem Titel «Der rote Narr» widmet sich dem Schriftsteller C. A. Loosli.

VIELSEITIG. Loosli lebte ab 1904 bis zu seinem Tod 1959 in Bümpliz. Obschon er nur kurz Mitglied der sozialdemokratischen Partei war und sich weder als Sozialist noch als Gewerkschafter verstand, schrieb er Gewerkschaftsgeschichte: 1912 ge­hörte er zu den Gründern des Schweizerischen Schriftstellervereins und wurde sein erster Präsident. Der heutige Verband ­Autorinnen und Autoren der Schweiz (AdS) geht auf diese Gründung zurück. Daneben kämpfte Loosli gegen die Anstalts­erziehung, gegen die administrative Ver­sorgung von Erwachsenen, gegen den Antisemitismus oder für die Gleichstellung der Frau. Erwin Marti, der Loosli eine grosse Biographie gewidmet hat, schreibt: «Wichtig zu erkennen ist, dass der Einzelkämpfer Loosli über weite Strecken die Politik machte, welche eigentlich Aufgabe und ­Sache der SP und der Gewerkschaften gewesen wäre.» www.rebrand.ly/buempliz-fest


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