Der historische 14. Juni 2019: Alle Erwartungen übertroffen! Jede Dimension gesprengt!

Gross, grösser, grossartig: So war der Frauenstreik

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Über eine halbe Million Frauen strömten am 14. Juni 2019 auf Strassen und Plätze der Schweiz. Mit grenzenloser Kreativität und unbändiger Macht. Der Frauenstreik war die grösste politische Demonstration der neueren Geschichte. Die work-Redaktion war mittendrin und hat  die Aufbruchstimmung eingefangen.

VERKÄUFERINNEN IN DER PROTESTPAUSE: In der Berner Marktgasse ging eine gute Dreiviertelstunde nichts mehr ausser Frauenpower. (Foto: Manu Friedrich)

work-Redaktorin Patricia D’IncauBern brennt

Die lila Welle kommt über Nacht. Die Gerechtigkeitsgasse wird zur Frauen*streikgasse, die Spitalgasse zur Care-Arbeit-Gasse, am Bahnhof grüsst ein Transparent: «Nächster Halt: Gleichstellung».

Oben rollen die Züge, unten wirbeln die Frauen. Mit ­Besen und Staubsauger, quer durch die Bahnhofshalle. Rund 20 sind es. Mit violetten Tüchern im Haar, dem Staubwedel in der Hand und dem Wäschekorb unter dem Arm. Typische Hausarbeit, mitten im Pend­lerinnenstrom. Weil (Gratis-)Hausarbeit noch immer als Frauenarbeit gilt und meistens unsichtbar ist.

200 Verkäuferinnen entrollen ein langes Forderungsband.

REBELLINNEN. Schmuckverkäuferin Marcia eilt aus der Ladentür hinaus in die Marktgasse. Eine violette Streikfahne in der einen Hand, ein gelbes Streikfähnchen in der anderen. Dann reiht sie sich ein in die lange Frauenkette, die sich durch die ganze Strasse zieht: Rund 200 Verkäuferinnen halten eine hundert Meter lange Stoffbahn. Darauf stehen ihre Forderungen: keine Sonntagsarbeit, längerer Elternurlaub. Und endlich rauf mit den Löhnen!

Es regnet Konfetti, es gibt Musik – und noch bevor die Unia-Aktion vorbei ist, rollt die nächste Streikwelle an. 5000 Mütter und Väter, Grossmütter und Grossväter kreuzen auf, mit Hunderten von Kinder­wagen, Buben und Mädchen: «Keine zu klein, um Rebellin zu sein». Sie wollen Elternzeit, eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie und gute Kinderbetreuung.

Kinderwagendemo: «Keine zu klein, um Rebellin zu sein.»

HELDINNEN. Schon ist der Bundesplatz voll. Voll und voll und voll und voll. Die Sonne brennt, die Menge wogt. Ein Programmpunkt jagt den nächsten: Das Patriarchat steckt auf dem ­Bärenplatz fest. Es ist ein Holzkonstrukt auf Rollen. Eine Superheldin gibt ihm den Rest: «Nieder mit dem Patriarchat!»

Die Gassen sind viel zu klein für diese Massen. Mehr als 70 000, strömen wir durch die Hauptstadt als endloser Demozug. Wir legen einen Sitzstreik ein, wir klatschen und singen und rufen im Takt. Und als die ersten Frauen wieder zurück auf dem Bundesplatz eintreffen, sind die letzten noch gar nicht gestartet.

Irgendwann stehen wir alle zusammen: wir Frauen, die seit Monaten auf diesen Tag hingearbeitet haben. Wir halten uns in den Armen, jubeln, lachen und weinen. Lange hatten wir von diesem Tag geträumt und ihn uns doch nicht zu erträumen gewagt. Und dann – am Ende – schrieben wir Geschichte.


work-Redaktor Jonas KomposchZürich bebt

GEFÄHRTINNEN MIT GEFÄHRT: 160 000 auf den Strassen – bunt und breit und laut und lang war der Frauenstreik auch in Zürich. (Foto: Corina Rainer / Freshfocus)

«What the hell is going on here?» prustet es aus einem US-amerikanischen Touristen, als er mit zwei Rollkoffern aus dem Zürcher Hauptbahnhof tritt: «Was zum Teufel ist denn hier los?» Was er sieht, ist ein Meer von lauten, selbstbewussten, ja euphorischen Frauen. Die Strassen sind verstopft. An einen Touri-Bummel ist nicht zu denken, viel eher an Revolution. Schliesslich sind es so viele Frauen, dass sämtliche Zählmethoden schlichtweg versagen. Selbst die Stadtpolizei kapituliert und belässt es bei einer vagen Schätzung von «mehreren Zehntausend». Das lokale Streikkomitee wiederum kommt Handgelenk mal Pi auf 160 000. Tatsächlich dürften es über Hunderttausend sein. Und das ist historisch: die grösste politische Demonstration, die Zürich jemals gesehen hat.

ES KRACHT UM MITTERNACHT. Seinen Anfang nimmt der Mega-Event am Goldbrunnenplatz in Zürich Wiedikon. Um punkt Mitternacht versammeln sich dort Quartierbewohnerinnen mit Trommeln und Pfannendeckeln und lärmen den Streik in die Nacht. Wenig später krachen Raketen im Kreis 4 und 5, wo zudem ein schier endloser Autocorso mit Frau am Steuer den Streik einhupt und den Verkehr lahmlegt: Statt Trams rollen nun lila beflaggte VW-Büssli, Cabrios und sogar Traktoren. Bald füllen sich Gassen und Plätze auch mit Frauen. Und die führen so einiges im Schild: Mitten auf der Hardbrücke etwa taucht plötzlich eine überdimensionale Klitoris auf, an der Uni «fraulenzen» Wissenschafterinnen auf Liegestühlen, und am Idaplatz werden für ein währschaftes Bäuerinnen­zmorge (Hühner-)Eier zerschlagen.

Im Kreis 4 und 5 hupt ein schier endloser Autocorso mit Frau am Steuer den Streik ein.

EINZIGARTIGE STIMMUNG. Um 10 Uhr brummt erneut ein Autocorso durch die Stadt. Sein Ziel: ein schwesterlicher Gruss an die Inhaftierten im Frauengefängnis Dielsdorf. Kurz darauf strömen gut hundert Frauen von der ETH runter zum Central. Auf ihren Transparenten steht: «Blockieren, damit es weitergeht» oder «Wenn Frau will, steht alles still». Prompt wird der wichtige Verkehrsknotenpunkt besetzt.

In verschiedenen Spitälern kommt es derweil zu Protestpausen gegen den Pflegenotstand. Frauen aus dem Care-Sektor nutzen die Gelegenheit, um ein Theater aufzuführen. Ihre Message: «Wir Frauen subventionieren mit unserer schlecht oder gar nicht bezahlten Fürsorgearbeit die Wirtschaft – nicht umgekehrt!»

Überhaupt ist jetzt die ganze Stadt eine einzige Protestbühne. Fahnen und Transparente flattern aus gefühlt jedem zweiten Gebäude. All das kulminiert schliesslich in der abendlichen Riesendemo, die für mehrere Stunden die Innenstadt zum Stillstand und zugleich zum Beben bringt. Die Stimmung ist einzigartig: kämpferisch, aber auch lustvoll und festlich. Kein Wunder, entfaltet sich auf dem Helvetiaplatz ein rauschendes Abschlussfest. Es dauert bis in die frühen Morgenstunden. Zu Ende ist damit bloss der Streik. Die Bewegung nämlich ist in den Startlöchern wie nie zuvor.


work-Redaktorin Anne-Sophie Zbinden Das Vallée de Joux hallt

LAUT: Wo 1991 alles begann, wird auch 2019 wieder gestreikt. (Foto: ASZ)

«Oli, oli, oli, ola, 14 juin nous y voilà», klingt’s durch das Vallée de Joux. Das ­Juratal liegt zwar etwas abseits, aber beim Frauenstreik mittendrin. Rund 500 Uhrenarbeiterinnen haben sich in Le Sentier VD zu einer verlängerten Mittagspause versammelt. Trotz Regen und frostigen Temperaturen erhitzen sich die Frauengemüter: für gleiche Löhne, bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, mehr Frauen in Kaderpositionen.

LÖHNE RAUF. Elsa (22) und ihre Freundin Virginie (41) sind seit frühmorgens auf den Beinen. Die beiden Arbeiterinnen haben ihre Kolleginnen mobilisiert und sich die Nägel lila lackiert. Elsa sagt: «In der Uhrenbranche beträgt der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen sogar 25 Prozent.» Ihre Freundin Virginie doppelt nach: «Die Löhne müssen jetzt endlich rauf! Wir sind wütend, aber das heute, das ist ein Fest!» Und weiter geht’s im Takt, oli, oli, ola …

WO ALLES BEGANN. Da ruft Unia-Frau ­Camille Golay in die Menge: «Auch Lilia­ne Valceschini war wütend. Und wir sind wütender denn je!» Tosender Applaus, Hunderte Frauenfäuste recken in die Luft. Denn Liliane, Frauenstreikerin der ersten Stunde, ist eine von ihnen. Die Frau, die 1991 den ersten Frauenstreik ins Rollen brachte (work berichtete), war ebenfalls Arbeiterin im Tal der Luxusuhren. Im Valée de Joux hat vor 28 Jahren alles begonnen. Und deshalb ist heute auch Unia-Chefin Vania Alleva hier. Um am Tag der Tage diesen symbolischen Ort zu würdigen, wie sie sagt. Und: «Wir müssen weiterkämpfen!» Wieder laute Zurufe, freudige Gesichter, und noch einmal das «Oli, oli, oli, ola …», das im stillen Bergtal noch eine ganze Weile nachhallen wird.


work-Redaktor Christian Egg Basel platzt

FARBE ZEIGEN: Die Verkäuferinnen der Kosmetikkette Lush solidarisieren sich mit den streikenden Frauen und zeigen Pink. (Foto: Unia)

In Basel fängt der Frauenstreik schon am Abend vorher an: Riesig projizieren Aktivistinnen das Streiklogo mit der Faust auf den Roche-Turm, das höchste Haus der Schweiz. Am Morgen dann tragen die Verkäuferinnen der Kosmetikkette Lush in der Freien Strasse Pink. Vor dem ­Laden hängt die Streikfahne, neben der Kasse liegen Streikbändeli. Sie selber hätten ja keinen Grund zum Streiken, sagen die Frauen. Ihre Löhne seien deutlich besser als sonst im Detailhandel. Aber dass sie am Streiktag solidarisch seien und Farbe bekennten, das sei Ehrensache.

Die Kosmetik-Verkäuferinnen bekennen Streikfarbe.

SUPERHELDINNEN*GASSE. «Stop!» ruft eine Frau um halb zwölf am Messeplatz. Und noch eine und noch eine. Es ist der Tanz-Flashmob gegen Gewalt gegen Frauen. Mit Youtube-Videos haben sie vorher geübt, jetzt tanzen etwa 50 Frauen gemeinsam und kraftvoll. Dann verteilen sie pinkige Schirme mit der Streikfaust und dem Slogan: «Gewalt ist nie privat». Vor dem Kunstmuseum stehen Baubaracken. Auch sie sind mit Streikfahnen und einem Transparent geschmückt. Gleich dahinter haben Frauen die Rittergasse in Superheldinnen*gasse umbenannt.

WENIGER SCHWACHSINN. Am Theaterplatz sind schon am Mittag mehrere Tausend Frauen da. Auf einem T-Shirt steht «More Feminism, less Bullshit»: Mehr Feminismus, weniger Schwachsinn. Um halb vier, anderthalb Stunden vor Demostart, ist der Platz schon viel zu klein.

Als die Demo schliesslich losgeht, zählen die Organisatorinnen 40’000 Frauen (und ein paar Männer). Für Autos und Trams ist kein Durchkommen mehr. Die Leitstelle der Verkehrsbetriebe twittert: «Ganzes Netz: Frauenstreik».


work-Redaktor Ralph Hug St. Gallen rappt

EINHEIZERINNEN: Die Berthas und ihre Megaphone. (Foto: rh)

Der Demozug will nicht enden. 5000 sind es mindestens. Wieder und wieder hallt ein Ohrwurm durch die Gassen: «Ufe mit de Frauelöhn, abe mit de Boni!» Dieser Slogan hat Evergreen-Qualität. Vor allem, weil sich das «Boooni» beim Marsch so schön in die Länge ziehen lässt.

«Ufe mit de Frauelöhn, abe mit de Boni!»

QUEERFEMINISTISCH. Jetzt ist das Kollektiv «Die Leiden der jungen Bertha» am Zug. Das sind fünf clevere junge Frauen. Sie nennen sich queerfeministisch. Will heissen: Das Geschlecht spielt keine Rolle, denn es hat viele Gesichter und kann sich wandeln. Die Berthas stehen mit Megaphonen bewaffnet auf der Bühne. Sie üben mit den Demonstrierenden das Parolenrufen ein: «Uufe mit de Fraue­löööhn, aabee mit de Booooni!»

Die Berthas sind in Fahrt. Sie legen auch noch eine Performance hin. Eine feministische Polit-Performance direkt unter den Augen von Vadian, dem Stadtheiligen. Einen solchen Aufstand der Weiber hat der Reformator noch nie gesehen. Die Berthas rappen rhythmisch ins Megaphon: «Wir stören, was uns stört!» Sie haben farbige Perücken aufgesetzt. Da explodiert die Kreativität einer neuen Generation. Gallus-Frauenpower.

Und dieser legt die Stadt lahm. Nichts läuft mehr in der Innenstadt, die Polizei kapituliert. Alles steht still, wenn Frau will. Auf Facebook schreiben die Berthas zwei Tage später: «Bertha weiss, dass das Gras grüner ist auf der anderen Seite.» Tausende andere wissen es jetzt auch.

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3 Kommentare

  1. Einfach super. Vor allem den Gewerkschaftsbonzen muss
    Feuer unterm Arsch gemacht werden. Seit hundert Jahren haben sie es nicht einmal geschafft, die grundlegensten Rechte für die Frauen durchzusetzen.

  2. Alfred Matejka

    Das ist ja einfach nur spitze.So was wünsche ich mir bei uns in Deutschland.Alle Achtung.
    Herzliche Grüße
    Alfred Matejka
    Betriebsratsvorsitzender a.D.

    • Matti Illoinen

      Da können Sie lange warten. In Deutschland lösen sie erst noch eine Bahnkarte, bevor sie auf den Protest Zug aufspringen.

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