Eine der mächtigsten Frauen Italiens tritt ab

Frau Camusso, wohin steuert Italien?

Marie-Josée Kuhn

Acht Jahre lang führte Susanna Camusso (63) die grösste Gewerkschaft Italiens und auch ­Europas. Jetzt tritt die CGIL-Chefin zurück. Nicht wehmütig, aber ziemlich besorgt um Italien.

BELLA CIAO: Die erste Frau an der Spitze der grössten Gewerkschaft Italiens geht. (Foto: Getty)

work: Warum sorgen Sie sich so um Italien?
Susanna Camusso: Italien steuert nach rechts, aggressiv nach rechts, mit einem fremdenfeindlichen Drall und einer gehörigen Portion Nationalismus. Die Überzeugung gewinnt an Boden, dass die einzelnen EU-Länder ihre Probleme alleine lösen könnten, ja sogar, dass sie sie alleine besser lösen könnten. Die jetzigen Regierungsparteien behaupten, sie kümmerten sich um die sozialen Probleme. In Tat und Wahrheit kommen die ergriffenen Massnahmen vor allem den Reichen zugute, sie schaffen keine Arbeit und verbessern die Arbeitsbedingungen nicht.

Italien hatte einst eine starke und stolze Linke. Was ist passiert?
Die Arbeitenden fühlen sich als Verliererinnen und Verlierer der Globalisierung. Zu Recht, denn sie kamen heftig unter Druck: Arbeitsplatzabbau, Firmenschliessungen, Sozialabbau und harte Konkurrenz durch Arbeitnehmende aus anderen Ländern. Mehrere Regierungen, auch die Mitte-links-Regierung von Matteo Renzi, bliesen zum Angriff auf die Arbeitsbedingungen. Sie erliessen eine Serie von Gesetzen die von den Arbeitnehmenden als Schlag ins Gesicht empfunden wurden. Sie sahen ihre Renten und Löhne schrumpfen, ihre Gesamtarbeitsverträge, die nicht erneuert wurden, den Service public, der sich zugunsten von Privatisierungen zurückzog. Und plötzlich sahen sie keine Alternative mehr, keinen Unterschied zwischen den politischen Vorschlägen der Rechten und jenen von Mitte-links. Sie hatten nur noch das Gefühl, alle hätten sie während der Krise im Stich gelassen. Und es gebe für sie in diesem wirtschaftlichen Umfeld kein Auskommen mehr und kein würdiges Leben.

Was hat die Linke falsch gemacht?
Die Linke hat vieles nicht verstanden. Was es für die Arbeitnehmenden bedeutet, wenn sie arbeitslos werden, zum Beispiel. Was es heisst, keinen sicheren Arbeitsplatz mehr zu haben, und Kinder, die ihre Koffer packen und auswandern. Mitte-links hat sich ganz einfach von der Idee verabschiedet, dass die Sicherheit der Arbeitnehmenden der Mittelpunkt der Politik sein muss. Was für ein Wahnsinn!

In Italien herrscht ein rassistisches Klima, das ist auch für die Frauen gefährlich.

Und die Gewerkschaften?
In Italien hat die Gewerkschaftsbewegung einen hohen Preis dafür bezahlt, dass sie die Arbeitsgesetze der Regierung Renzi nicht geeint bekämpft hat. Wir von der CGIL haben alleine gestreikt, später zusammen mit der Gewerkschaft UIL. Aber wir konnten nie zusammen mit der dritten grossen Gewerkschaft, CISL, agieren. Unsere Ak­tionen haben es uns zwar erlaubt, eine starke Bindung zu den Arbeitenden zu bewahren, doch sie wählten dann trotzdem die harten Rechten, einen Salvini. Die Arbeitenden bleiben zwar Mitglieder der CGIL, aber es ist schwierig, ihnen eine Alternative aufzuzeigen. Auch wenn sie beginnen, mit der aktuellen Regierung unzufrieden zu sein, sagen sie sich, dass diese wenigstens neue Köpfe präsentiere und dass die vorhergehenden Regierungen noch schlechter gewesen seien. Bis jetzt sehen wir bei den linken Parteien keinerlei Anstrengungen, darauf eine Antwort zu finden und eine neue Politik zu ent­werfen.

Die Rechtsaussenregierung von Matteo Salvini greift jetzt auch die mühsam erkämpften Rechte der Frauen an. Lassen sich die Frauen das bieten?
Nein, die Frauen wehren sich. Im vergangenen Herbst gingen viele Frauen zur Verteidigung historischer Errungenschaften auf die Strasse. Zum Beispiel für das Recht auf Abtreibung. Trotzdem: In Italien herrscht derzeit ein rassistisches Klima, das von der Regierung geschürt wird, es herrscht eine gewalttätige Sprache, man ruft die Bevölkerung auf, sich zu bewaffnen und auf alles Fremde, auf den Feind, Jagd zu machen. So ein Klima ist auch für die Frauen gefährlich. Denn sie sind ja eine klassische Zielscheibe von Männer­gewalt. Das sehen wir bei all diesen Frauenmorden, die in Italien und anderswo verübt werden und in der Öffentlichkeit «Beziehungsdelikte» oder «Eifersuchtsdramen» genannt werden. Und wir sehen es in Italien auch bei diesem Gesetzesentwurf, der vorsieht, dass Frauen, die von ihren Männern geschlagen werden, mit diesen trotzdem das Elternrecht teilen müssen. Letz­teres ist ein bemerkenswerter Rückschritt in Italien. Und auch die Tatsache, dass nur sehr wenige Frauen in der jetzigen Regierung vertreten sind.

Und wie steht es in Italien mit der Lohngleichheit?
Lohngleichheit haben wir in Italien nur auf dem Papier. Im privaten Sektor herrscht ein Lohnunterschied von etwa 18 Prozent. Zum Teil ist das auch die Folge davon, dass sogenannte Frauenberufe weniger gut von Gesamtarbeitsverträgen abgedeckt sind. Kommt dazu, dass die unfreiwillige Teilzeitarbeit bei uns derzeit stark wächst: Die Frauen sind gezwungen, weniger zu ­arbeiten, als sie möchten, und haben daher einen tieferen Lohn. Im öffent­lichen Sektor ist die Lohndiskriminierung etwas weniger gross.

Sie haben es als eine der wenigen Frauen ganz nach oben geschafft, an die Spitze der grössten Gewerkschaft Italiens. Das war sicher nicht ganz einfach, oder?
Nein, denn ich war die erste General­sekretärin in der Geschichte der CGIL. Meine Familie war links geprägt, und ich glaube bis heute, dass Arbeit der Motor ist, der alles am Laufen hält. So war es für mich nur logisch, dass ich nach dem Studium in die Gewerkschaft ging. Nach oben kam ich dort auch deshalb, weil es bei der CGIL viele starke und aktive Frauen gibt, und dank unserem Antidiskriminierungsverbot für alle Gewerkschaftsorgane. Es besagt, dass kein Geschlecht mehr als 60 Prozent der Stellen besetzen darf. Das macht, dass wir in vielen Berufssektoren und Regionen Generalsekretärinnen haben. Doch auch in unserer Organisation gibt es Rückschritte: mein Nachfolger ist ein Mann (siehe Spalte links, Red.).

Mitarbeit: Anna Luisa Ferro


Susanna Camusso Aufwärtsseglerin

METALLER-CHEFIN: Susanna Camusso 1981 in Mailand. (Foto: ANSA)

Susanna Camusso kam 1955 als vierte von vier Schwestern in Mailand zur Welt. Ihr Vater arbeitete in der Gemeindeverwaltung, ihre Mutter als Psychologin: «Wir hatten ein Haus voller ­Bücher», sagt sie.

AKTIV. Als Studentin (der Altphilologie) engagiert sie sich in der Studentinnen- und Studentenbewegung und ­verteilt Flugblätter vor den Fabrik­toren. Ist auch aktiv in der Frauen- und der Gewerkschaftsbewegung. Mit 22 wird sie Chefin der Lokal­sektion der Metall­gewerkschaft in ­Mailand, dann der ­ganzen Region Lombardei. 2008 geht die passionierte Seglerin und Mutter einer Tochter nach Rom und zur grössten Gewerkschaft Italiens und Europas, CGIL, die 5 Millionen Mitglieder hat. 48 Prozent sind Frauen. 2010 wird Camusso deren General­sekretärin.


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