23 Jahre Nationalrätin Leutenegger Oberholzer

SLO gut, merci!

Clemens Studer

Susanne Leutenegger Oberholzer war in zwei Etappen 23 Jahre lang Nationalrätin. Jetzt ist sie zurückgetreten. Eine Würdigung in Fragmenten.

SUSANNE LEUTENEGGER OBERHOLZER: Keine andere Politikerin kann den SVP-Führer und andere rechte Herrschaften so charmant abservieren. (Foto: Keystone)

Nationalratssaal, Morgen des 9. Dezember 1987. Nach den Rücktritten von Pierre Aubert (SP) und Leon Schlumpf (SVP) aus dem Bundesrat stehen Ersatzwahlen an. Offiziell als Nachfolger nominiert sind René Felber (SP) und Adolf Ogi (SVP). Erste und einzige Bundesrätin bleibt Elisabeth Kopp. Am Rednerpult steht eine neugewählte Nationalrätin der Progressiven Organisationen (Poch) aus dem Baselbiet und wettert gegen diese Männerwirtschaft. Es ist der erste Auftritt von «slo», von Susanne Leutenegger Oberholzer (70) im nationalen Parlament. Im Rat murrt’s.

ETWAS STIMMT NICHT

Die Sache mit den Männern und der Gerechtigkeit hat sie früh geprägt. Ihr Vater wollte nicht, dass sie aufs Gymi gehe. Slo: «Unnötig für ein Mädchen. Meine Schwester wurde Primarlehrerin. Das ging knapp noch.» Susanne setzte sich durch, unterstützt von der Mutter. Überhaupt, die Mutter. Eine gescheite Frau – selbstbewusst und selbstbestimmt. «Von ihr habe ich den Sinn für Gerechtigkeit geerbt und Durchsetzungsvermögen gelernt», sagt Leutenegger Oberholzer. Das half ihr später dann auch gegen Blocher & Co.: Keine Politikerin sonst kann den SVP-Führer und andere rechte Herrschaften so effizient und charmant abservieren wie sie.

Als Mutter Leutenegger sich von ihrem Mann trennt, baut sie ein Modegeschäft auf. Es wurde innert kürzester Zeit zum Hotspot des Churer Mittelstandes. Kantischülerin Susanne führt die Buch­haltung und entwickelt ein Gespür für Mode, das sie später zu einer der am stilsichersten gekleideten Schweizer Politikerinnen macht. Susanne Leutenegger wird volljährig – und hat kein Stimmrecht: «Da merkst du schnell, dass in dieser Gesellschaft etwas nicht stimmt.»

Und bald merkte sie, dass auf dieser Welt eine ganze Menge nicht stimmte. Die Geschlechterfrage, der Vietnamkrieg, der Antiimperialismus, die AKW-Bewegung, die Ausländerpolitik: alles Kämpfe, die sie mitkämpfte und die sie prägten. Ab 1967 dann Studium an der Uni Basel. Nationalökonomie. Die Reise nach Basel wurde zum Kulturschock. Nicht, weil da eine aus der Alpenstadt in die grosse Stadt gekommen wäre, sondern: «Das Ausmass der Ausländerfeindlichkeit bis weit in die SP und die Gewerkschaften hinein hat mich schockiert. Das kannte ich aus Chur nicht.» Einmal, so erinnert ­Leutenegger sich, «wurden wir beim Verteilen von Flugblättern gegen die Schwarzenbach-Initiative gar verprügelt.»

Heute noch, nach fünf Jahrzehnten Nordwestschweiz, ist bei ihr kein Hauch von Basler oder ­Baselbieter Dialekt zu hören. Ist slo so sehr mit der Geburtsstadt verbunden? Slo: «Ich bin Heimweh-Churerin. Es gibt Leute, die sagen, ich könne immer noch mit geschlossenen Augen durch die Stadt gehen.» Und stimmt’s? «Ich glaube schon, ja.»

Langweilig wird es «slo»
nicht ohne Bundeshaus, …

SIE WILL’S WISSEN

Nach dem Studium schrieb Leutenegger als Wirtschaftsredaktorin für die linksliberale «National­zeitung». Nach der Fusion mit den rechten «Basler Nachrichten» zur «Basler Zeitung» wechselt sie 1977 als Leiterin der Abteilung Wirtschafts- und Konsumentenpolitik zu Coop Schweiz. Zwei Jahre später wird Leutenegger Prokuristin – ernannt von Otto Stich. Eine Erinnerung, die ihr heute noch merklich gefällt.

Ihren Mann lernt sie an den Demos gegen das AKW Gösgen in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre kennen. An der ersten Demo eskalierte die Polizei, und Leutenegger stand in der vordersten Reihe, mitten im Tränengas: «Nicht, weil ich so militant war. Sondern, weil ich wissen wollte, was da vorne läuft. Ich war halt schon immer gwundrig.» Ihrem späteren Mann fiel die Frau in der ersten Reihe auf – und sie verabredeten sich für die zweite Kundgebund eine Woche später: «Da war’s in unserem Zug friedlich, und wir konnten reden.»

1980 beginnt die Karriere der Parlamentarierin Susanne Leutenegger Oberholzer: Einwohner­rätin in Allschwil, Verfassungsrätin des Kantons ­Basel-Landschaft, Nationalrätin. Alles als Vertreterin der linken Poch, die sich dann im «Grünen Bogen» verlor. 1991 tritt slo nicht mehr an.

1992 war Leutenegger sehr aktiv im linken Ja-Komitees zum EWR-Beitritt. In diesem Rahmen wurde das Urkonzept der flankierenden Massnahmen zur Personenfreizügigkeit entwickelt. Das knappe Nein vom Dezember 1992 ärgert slo heute noch – vor allem, weil die Grünen und einige SPler den Ausschlag dafür gaben.

Zwei Jahre später – Leutenegger Oberholzer hat unterdessen auch noch ihr Jusstudium abgeschlossen – wird sie Zentralsekretärin der Gewerkschaft Bau & Industrie. Nach knapp drei Jahren endete das Experiment.

… aber das Bundes­haus wird definitiv langweiliger ohne «slo».

STRENG ZU SICH UND ZU ANDEREN

1999 kehrt Leutenegger in den Nationalrat zurück. Jetzt für die SP, der sie 1993 nach der Wahl von Ruth Dreifuss in den Bundesrat beigetreten war. Swissair-Grounding, Bilaterale, UBS-Rettung, Namensrecht, Gleichstellunggesetz, Bankenregulierung, Steuerreform: das sind nur sieben von unzähligen Geschäften, die slo geprägt hat. Unzählige Vorstösse hat sie eingereicht und ungezählte Gespräche geführt mit Expertinnen und Experten inner- und ausserhalb der Verwaltung. Wer etwas ändern will, muss auch sagen, wie. Mit ihrer Hartnäckigkeit hat slo sich nicht nur Freundinnen und Freunde gemacht. Gerade auch in den eigenen Reihen. Sie ist streng zu sich, aber auch zu anderen. Das ist anstrengend für sie, aber auch für die anderen. Und slo mag die inhaltliche politische Auseinander­setzung. Sie sagt: «Wir streiten viel zu wenig. Wir gehen zu oft schon eingemittet auf die Suche nach dem Kompromiss.»

Nationalratssaal, Nachmittag des 6. Dezember 2018. Am Vortag hat die Bundesversammlung zum ersten Mal zwei Frauen am gleichen Tag in den Bundesrat gewählt. Es sind die Bundesrätinnen Nummer 8 und 9 (siehe unten: «Friede, Freude, Strafaufgabe»). Am Rednerpult steht Susanne Leutenegger Oberholzer. Sie spricht zu den Doppelbesteuerungsabkommen mit Sambia, Ecuador, Brasilien und Grossbritannien. Sie erklärt, ­warum aus fortschrittlicher Sicht bilaterale Steuerabkommen nur zweite Wahl sein können. Und dann, ganz zum Schluss, bedankt sie sich bei den Mitarbeitenden der Parlamentsdienste. Es ist der letzte Auftritt von Susanne Leutenegger im nationalen Parlament – nach insgesamt 23 Jahren in zwei Etappen. Der Rat steht und applaudiert.

Was wird ihr fehlen? Einige Menschen, die Arbeit in den Kommissionen, sagt Leutenegger Oberholzer. «Die Politik» nicht. Warum auch? Die macht sie weiter. Einfach an anderen Orten. Und sie hat sich wieder an der Uni immatrikuliert («Ich habe noch so viele Wissenslücken», sagt sie ganz ernsthaft). Sie will ihre Dissertation schreiben. Langweilig wird es slo nicht ohne Bundeshaus. Aber das Bundeshaus wird definitiv langweiliger ohne slo.


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