Gelb-Westen: Fünf Wochen, die Frankreich erschüttern

Macrons Sozial-Sadismus

Oliver Fahrni

Aus dem Rüpel-Protest der Gelb-Westen wächst jetzt eine Bewegung, die mit dem Neo­liberalismus und ­alten Formen der ­Politik bricht. Wohin das treibt, weiss niemand.

GOLDIGER PRÄSIDENT: Emmanuel Macron macht Politik für die Reichen und lässt den Rest der Bevölkerung im Regen stehen. (Foto: Keystone)

Marseille am ersten Advent. In meiner Strasse brennen die Barrikaden. Kollegen der Gewerkschaft Sud ­erzählen, wie sie von Zivilpolizisten mit Stahl­ruten durch die Stadt gejagt wurden. Eine 81jährige Frau, die gerade ihre Fensterläden schliessen wollte, ist von einer Polizeigranate ge­tötet worden.

Die französische Anti-Aufstands-Truppe CRS («Robocops») hat an jenem Tag mehr Munition verschossen als im ganzen Jahr 2017. Präsident Emmanuel Macron wollte damit die Bewegung der Gelben Westen ersticken oder zumindest spalten. ­Resultat: verwüstete Boulevards in Paris, Bordeaux, Toulouse, Nantes, Lyon …, brennende Banken, Plünderungen.

Innenminister Christophe Castaner hat «3500 professionelle Zerstörer» erspäht. Skeptisch kommentierte ein Polizist: «Wir wissen von 250 Leuten im schwarzen Block. Und von 200 Rechtsextremisten. Wer sollen die anderen 3000 sein?» Die spontane Wut gegen Macron hat Reiche und Regierende kalt erwischt. Revoltierendes Volk ist nicht nett. Inzwischen haben mehr als 700’000 Menschen landesweit an Demonstrationen teilgenommen. 80 Prozent der Bevölkerung stimmten ihnen zu. Für den 8. Dezember bot Macrons Innenminister Castaner deshalb 89’000 Mann auf. Eine Armee. Rund 4000 Gelbwesten wurden bisher verletzt, viele schwer: abgerissene Hände und Füsse durch die Offensiv-Granaten, Schädelbrüche, schwere Gesichtsverletzungen und Erblindungen durch die «weniger tödliche» Gummimunition. Es gab Präventiv- und Massenverhaftungen, Sondergerichte und Blitzverfahren.

Schon bald zirkulierte ein starker
Forderungskatalog.

BÜRGERKRIEG ODER REVOLUTION?

In Mantes-la-Jolie, im Westen von Paris, zwang die Polizei 150 Jugendliche auf die Knie, Hände im Genick, Gesicht gegen die Wand. Darauf explodierte der Aufstand in 400 Gymnasien. Als die 15jährige Tochter einer Bekannten das Video sah, fragte sie: «Ist das jetzt Bürgerkrieg oder Revolution?»

Klar sind ein paar Fakten: Es sind die heftigsten Unruhen seit 1968. Am Anfang standen Verkehrsblockaden gegen eine Dieselsteuer. Doch sofort kamen Forderungen zu den Löhnen und ­Renten hinzu. Auf den Protesten finden untere Schichten und absteigende Mittelschichten, Kleinunternehmerinnen und Kleinunternehmer sowie selbständig und prekär Beschäftigte zusammen. Das zeigt die Soziologin Isabelle Coutant. Der Ökonom Alain Lipietz nennt es eine «Revolte gegen die soziale Uberisierung (also die soziale Verunsicherung) – und gegen Macrons Sozial-Sadismus». Die Frauen spielen bei den Blockaden eine besonders aktive Rolle, denn sie tragen die drückende Mehrfachbelastung in den Familien.

STEUERGERECHTIGKEIT UND RENTE

Absteigende Mittelschichten neigen meist rechtsnationalistischen Ideologien zu. So tönte es erst auch. Doch soziale Bewegungen entfalten schnell eigene, mächtige Dynamiken. Schon bald zirkulierte ein 42 Punkte starker ­Forderungskatalog. 39 Punkte beziehen sich auf Lohn, Steuer­gerechtigkeit, sichere Renten und sichere Arbeit, Ausbildung, Mieten, Ökologie. Unbekannte Köpfe erscheinen in den Medien und sagen gut bedachte Dinge. Aus der alten Industrieregion Lorraine kam der Appell, im ganzen Land «Volksräte» zu bilden, «um die Politik wieder in unsere Hände zu nehmen».

Wie das ausgeht, weiss niemand. Immerhin hat der Aufruhr die Intellektuellen abrupt aus dem Dauerschlaf geschüttelt. Täglich erscheinen brisante Beiträge und Studien. Auch der ehrwürdige Soziologe und Denker Edgar Morin (97) hat sich zu Wort gemeldet: «Diese Bewegung zwingt uns, die Gesellschaft, die Zivilisation, unsere Miseren, die Republik, die Zukunft und die Politik neu zu denken.»


Frankreichs Präsident Macron hat das Volk gehört. Ein bisschen.Viel zu wenig, viel zu spät

KLARE BOTSCHAFT: Die Gelb-Westen fordern den Kopf von König Macron. (Foto: Getty)

Was man als Staatsschaupieler so alles auf sich nehmen muss: Emmanuel Macron, vor 18 Monaten von 25 Prozent der Stimmberechtigten gegen die Neofaschistin ­Marine Le Pen zum französischen Präsidenten gewählt, musste vors Volk treten. Am TV. Ein bisschen Abbitte sollte er leisten, um den Aufstand der Gelbwesten einzudämmen. Jenen Aufstand, den er zuvor geschürt hatte – mit einer aggressiv antisozialen Politik und mit Verachtung für Tiefentlöhnte, Alte, Arbeitslose. «Wenn ihr einen Job sucht, müsst ihr nur über die Strasse gehen», hatte er gesagt.

Es sassen mehr Menschen vor den Fernsehgeräten als beim Fussball-WM-Final. Doch Macron konnte nicht verbergen, wie tief zuwider ihm dieser Auftritt war. Bleich und verkrampft las er seinen Text ab. Frühere Präsidenten hätten einfach den Premier ausgewechselt. Das ging diesmal nicht. Denn die Rage von mehr als 80 Prozent der Bevölkerung richtete sich ausschliesslich gegen den «Präsidenten der Reichen».

Macron will keinen Millimeter vom neoliberalen Kurs abweichen.

BROSAMEN. Sein Text war gut geschrieben. Also hinterhältig. Plötzlich schien Macron die Nöte zum Beispiel einer alleinerziehenden Krankenschwester zu entdecken. Er versprach, den Mindestlohn sofort um 100 Euro im Monat zu erhöhen. Und ein paar weitere Brosamen. Doch zwischen den Zeilen sagte er: «Ich werde keinen Millimeter von meinem neoliberalen Programm abweichen, die Reichensteuer bleibt abgeschafft, und jetzt nehme ich mir die Renten und die Arbeitslosenversicherung vor.» Nur zwei Minuten nach Macron sagte Jean-Luc Mélenchon, Chef der Linken: «Wir brauchen mehr als Almosen!» Zu wenig und zu spät, meinten ein paar befragte Gelbwesten. Und die Gewerkschaft CGT kündete für Freitag einen Landesstreik an.


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1 Kommentar

  1. Peter Bitterli

    Ein absoluter Skandal, diesen offensichtlichst gewalttätigen und ziellosen Pöbel auch noch zu verharmlosen und rechtfertigen, bloss weil man meint, ihn für seine Seite vereinnahmen zu können.

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