Agrar-Abstimmungen vom 23. 9.: Für den Schutz von Arbeitnehmenden

2 x Ja gegen prekäre Jobs in der Landwirtschaft

Patricia D'Incau

Von wegen idyllisch: In der Schweizer Landwirtschaft sind die Löhne mies und die Arbeitszeiten lang. Auch darum geht es bei den Abstimmungen am 23. September.

SCHWEINEREI: Die Arbeitsbedingungen auf Bauernbetrieben in der Schweiz grenzen an Sklaverei. (Foto: Keystone)

Laura lächelt, Martin lächelt, Schaf und Schwein lächeln auch. Auf ihrem Bio-Bauernhof ist die Welt in Ordnung. Mit Laura und Martin sollen Kinder lernen, wie das Schweizer Bauernleben funktioniert.

Der Haken: Die beiden gibt es gar nicht. Sie sind eine Erfindung des Detailhändlers Coop. Und haben mit der Realität nur wenig zu tun.

3200 FRANKEN LOHN

Tatsächlich sterben der Schweiz die kleinen Höfe weg. 51’600 Bauernhöfe gibt es heute noch. Mitte der 1970er Jahre waren es doppelt so viele. An die Stelle des traditionellen Familienbetriebs traten grössere, unternehmerisch geführte Betriebe. Die Plackerei auf dem Feld übernehmen oft Angestellte (siehe Artikel unten). Zu Arbeitsbedingungen, die der langjährige Gewerkschafter und Bauer Philippe ­Sauvin (66) mit einem Wort zusammenfasst: «Mittelalterlich!»

Zwei Jahrzehnte war Sauvin auf Höfen und Feldern unterwegs, zuletzt für die Gewerkschaft «L’autre syndicat». Er weiss: «Monatslöhne von 3200 Franken und Arbeitswochen von bis zu 60 Stunden sind die Regel.» Zuschlag für Arbeitsstunden an Sonn- und Feiertagen gibt es nicht. Die tägliche Ruhezeit kann bis auf acht Stunden verkürzt werden.

Und das ganz legal. Denn: Das Arbeitsgesetz gilt in der Landwirtschaft nicht. Auch ein Gesamtarbeitsvertrag (GAV), der die Lücke füllen könnte, fehlt. Einzig kantonale Bestimmungen, sogenannte Normalarbeitsverträge, stecken einen gewissen Rahmen ab. Aber Sauvin sagt: «Meistens ist dort nicht einmal ein Mindestlohn festgelegt.» Er ist überzeugt: «Dass es kaum Regeln gibt, hat auch mit der geringen Wertschätzung dieser Branche zu tun.» Doch jetzt gibt es Bewegung: Am 23. September kommen gleich zwei Agrarvorlagen zur Abstimmung. Die «Fair-Food»-Initiative der Grünen. Und die Initiative «für Ernährungssouveränität» von der Bauerngewerkschaft Uniterre, bei der auch Sauvin mitwirkte.

Das Arbeitsgesetz gilt in der Landwirtschaft nicht.

CHANCE FÜR BAUERN

Beide Initiativen wollen, dass in den Regalen mehr Lebensmittel stehen, die ökologisch und fair produziert werden. Ware, die zu miesen Löhnen hergestellt wird oder aus Massentierhaltung stammt, soll es beim Import schwieriger haben. Die Idee der Ernährungssouveränität ist noch umfassender: Sie will, dass die Versorgung so weit als möglich mit einheimischen Produkten abgedeckt wird. Als Konsequenz soll aber nicht die inländische Massenproduktion gestärkt werden, sondern kleinere Bauernbetriebe.

Bäuerinnen und Bauern sollen nicht mehr am Subventionstropf hängen, sondern ein anständiges Einkommen erwirtschaften können. Etwa, indem weniger Geld im Zwischenhandel versickert. Und nicht zuletzt soll der Bund endlich bei den Arbeitsbedingungen der Angestellten hinschauen.

Für Philippe Sauvin ist das dringend nötig. Denn: «Es braucht würdige Lebensbedingungen für alle, die in der Landwirtschaft arbeiten.» Das sieht auch die Unia so. Sie unterstützt die Initiative. Nico Lutz, Geschäftsleitungsmitglied und Bauchef: «Es geht hier um eine der prekärsten Branchen überhaupt.»

Preisaufschlag: «Höchstens 3 bis 5 Prozent»

Die Agrarinitiativen kamen in ersten Umfragen gut an. Dann behauptete der Wirtschaftsdachverband Economiesuisse: Bei einer Annahme würden Lebensmittel bis zu 50 Prozent teurer.

PREISFRAGE. «Ein Lügen­märchen», kontert Bauernverbandschef Markus Ritter im «Blick». Ins Gebet nimmt er den mächtigen Zwischen- und Detailhandel, wo heute viel Geld landet. Ritter: «Bei den Margen gibt es hier Spielraum.» Und selbst wenn nach einem Ja bei den Margen alles beim alten bliebe, rechnet Ritter «im schlimmsten Fall» mit einem Aufschlag «um 3 bis 5 Prozent».

SCHWELLENLÄNDER. Gestritten wird auch um die internationale Auswirkung der Initiativen. Kritiker sagen: Sie schaden Entwicklungs- und Schwellenländern. Christine Badertscher vom Hilfswerk «Swissaid» hält dagegen: «Gerade die Fair-Food-Initiative ist für diese Länder eine Chance, da mehr sozial und nachhaltig produzierte Lebensmittel ge­handelt werden.» Denn: Heute könnten sie nur Rohstoffe zollfrei exportieren. Verarbeitete Produkte nicht. Mit Fair Food könnte diese Schranke fallen. Badertscher: «Für diese Länder heisst das: mehr Wertschöpfung.»


Das sah Student Nils Wyssmann bei einem Gemüseproduzenten im Mittelland: Sie schlafen in Blechcontainern

Es ist halb sieben Uhr morgens, doch die Fliessbänder hier in der Rüsthalle laufen bereits, ein paar Frauen verpacken Salat. Über hundert Menschen arbeiten während der Hochsaison auf dem Betrieb, ein Drittel von ihnen bleiben das ganze Jahr. Viele von ihnen kommen aus Portugal, andere aus Polen, Ungarn, der Slowakei. Sie pflücken Salat, Tomaten, Gurken – während zehn Stunden am Tag.

Nils Wyssmann. (Foto: Nina Seiler)

Ich werde dem ­Gemüsetunnel zugeteilt. Auf einem lottrigen Wägelchen fahre ich durch die Reihen und pflücke Gurken. Die Sonne scheint bereits in den Morgenstunden unerbittlich auf uns nieder. Ab zehn Uhr sind wir schweissnass. Hier im Tunnel ist es gefühlte 35 Grad warm.

DISZIPLIN. ‹Pausa!› hallt der Ruf ­eines Mitarbeiters um zwei vor zwölf durch den Tunnel. Wir gehen rüber zum ­Personalhaus, essen Bohnen mit Reis, Fleischeintopf, Tiefkühlpizza. Bereits um zwanzig vor eins verlassen die ersten das Haus wieder Richtung Magazin: die Freilandarbeitenden, die in Kleinbussen auf die Felder gebracht werden. Ich gehe zurück in den Tunnel. Auf dem Weg komme ich an den gelben Blechcontainern vorbei, die neben dem Maschinenlager stehen. ‹Ja, da wohnen Arbeiter drin›, antwortet Chris auf mein erstauntes Nachfragen. Er sei froh, wohne er im Mehrbettzimmer im Personalhaus und nicht im Container: ‹Vor Mitternacht kannst du dort unmöglich einschlafen, da drin wird es viel zu heiss.›

«Nur Arbeiten, Essen, Schlafen.»

SCHMERZEN. Am Nachmittag lerne ich David kennen. Er arbeitet die dritte Saison hier. Seit letztem Jahr ist auch seine Freundin da. Er sagt: ‹Deshalb arbeiten die Leute so diszipliniert: Wenn der Chef am Ende der Saison zufrieden mit dir ist, stellt er in der nächsten Saison jemanden aus deiner Familie oder deinem Dorf ein.› Eigentlich sucht David nach einem anderen Job. Er erzählt von Leuten, die in ­Luzern in der Hotellerie arbeiten; das sei besser bezahlt. Aber wie solle er dort eine Wohnung finden, wenn er den ganzen Tag arbeite? Zudem spreche er zu wenig gut Deutsch. Am Abend schaut David oft deutschsprachiges Fernsehen. Er versucht, sich die Wörter zu merken. ‹Doch nach wenigen ­Minuten schlafe ich ein.›

So läuft das Leben auf dem Betrieb. ‹Arbeit, Essen, Schlafen›, fasst Tiago, ein knapp 40jähriger Portugiese, seinen Alltag zusammen. Der Anfang sei am schlimmsten: Muskelkater, Rückenschmerzen, Schnupfen vom Blütenstaub. Das gibt sich mit der Zeit, die abendliche Müdigkeit bleibt.

Man gewöhne sich an vieles, sagen die Leute hier. Man gewöhne sich daran, im Sommer Überstunden zu machen und sie Ende Saison abzubauen.

Man ist da, um abends auch mal bis neun zu arbeiten und am Samstag auch mal am Nachmittag. Man ist da, um zu tun, was andere von einem wollen: der Chef, der Stift, der Markt.

Nils Wyssmann studiert Soziologie und Sozialanthropologie. Für ein Forschungsprojekt über die Arbeits- und Lebensrealitäten migrantischer Mitarbeitender arbeitete er in der Gemüse- und Obstproduktion.

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