Editorial

Eins, zwei Schadenfälle

Marie-Josée Kuhn

Marie-Josée Kuhn, Chefredaktorin work

Für die NZZ sind flankierende Massnahmen ein «Kollateralschaden» der Personenfreizügigkeit. Für die NZZ sind mehr Lohnschutz und mehr Gesamtarbeitsverträge also Schadenfälle. Und sie belegt das mit Fake News: «Zusammen mit den arbeitsmarktlichen Regelungen sind nämlich auch Gesamtarbeitsverträge wie Pilze aus dem Boden geschossen. Die vertraglich fixierten Löhne, die in der Regel mit zunehmender Berufserfahrung und dem Alter automatisch steigen, tragen dazu bei, einheimische Arbeitskräfte zu verdrängen.» Ein schlechter Witz, sagt dazu Unia-Chefökonom Beat Baumann. Denn GAV würden in der Regel Anfangslöhne fixieren, aber praktisch nie Lohnanstiege nach zehn Berufsjahren vorschreiben. Warum also meldet die Alte Tante von der Zürcher Falkenstrasse solchen Hafenkäse? Weil ihr mehr Lohnschutz und mehr Mindestlöhne ebenso ein (marktradikaler) Dorn im Auge sind, wie sie es Ems-Milliardärin Martullo-Bocher & Co. sind. Auch sie attackieren die Flankierenden frontal. Es sind Attacken auf ein Erfolgsmodell, wie work-Autor Clemens Studer im work-Schwerpunkt über die Personen­freizügigkeit aufzeigt (siehe: «Attacke auf ein Erfolgsmodell» und «Wie unser Arbeitsmarkt wurde, was er ist»).

Wer nicht hören will, muss fühlen.

EUROPÄISCHE WERTE. Beim Streit um die flankierenden Massnahmen geht es also nicht um «die Schweiz gegen die EU», denn die Gegnerinnen und Gegner von mehr Lohnschutz und mehr Rechten für Arbeitnehmende hocken hüben wie drüben. In Domat/Ems ebenso wie in Süddeutschland. Und ihre Befürworterinnen und Befürworter ebenfalls. Es geht deshalb nicht um ein nationales Problem. Es geht um ein soziales. Das weiss keiner besser als Ex-Unia-Co-Präsident ­Andreas Rieger. Er kennt die EU-Arbeitsmarktpolitik aus dem Effeff und wagt die These: Beim Kampf, den die Schweizer Gewerkschaften führen, geht es um die Verteidigung der europäischen Werte.

FRAUENFEINDE. Für die SVP wären Lohnkontrollen zur Umsetzung der Lohngleichheit eine «Lohnpolizei». Ebenfalls ein Schadenfall. In der zuständigen Nationalratskommission haben ihre Mitglieder nun geschlossen Nein gestimmt zu den Mini-Massnahmen. Genauso wie die FDP. work nennt die Namen der 12 Frauenfeindlichen (siehe: «Sie torpedieren die Lohngleichheit»). Und ruft zur nationalen Demonstration für Lohngleichheit und gegen ­Diskriminierung am 22. September in Bern auf. Jetzt erst recht: Wer nicht hören will, muss fühlen! Denn immer noch verdient in der Schweiz jede erwerbstätige Frau durchschnittlich 7000 Franken im Jahr weniger. Nur deshalb, weil sie eine Frau ist.

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