Aussenminister besorgt das Geschäft der Rechten:

Das Cassis-Prinzip

Ralph Hug

FDP-Bundesrat Ignazio Cassis will der Musterknabe sein, der es mit allen kann. Doch im Bundesrat ist er der Rechten immer zu Diensten.

OFFENSIVE: Ignazio Cassis’ Annäherung an die Deutschschweiz. (Foto: ti-Press)

Er mimt den Mann, der frischen Mutes ist und fröhlich alles anders macht. Vor der Basler Handelskammer verkündete Cassis kürzlich das Motto seiner Europapolitik: «Einstehen, vorwärts, marsch!» Fragt sich nur, wohin. Wenn er die flankierenden Massnahmen und den Lohnschutz anzweifelt, fällt die Antwort leicht: nach rechts. Cassis findet, man könne die Anmeldefrist für entsandte Arbeitnehmende problemlos von acht auf vier Tage verkürzen. Unter Mithilfe einer App. Das sagte er Mitte Juni in einem Interview mit Radio SRF.

UNBEDARFT ODER ABSICHTLICH?

Damit desavouiert er nicht nur den Bundesrat, der den Lohnschutz als «rote Linie» in den Verhandlungen mit der EU deklariert hat. Cassis entlarvt sich auch als unbedarft. Jeder Praktiker weiss, dass verkürzte Anmeldefristen die Lohnkontrollen unterlaufen. Bis ein Prüfer auftaucht, sind die Firmen schon wieder weg. Eine Einladung für Lohndumper. Und das ausgerechnet im europäischen Eldorado für Entsende-Büez. In keinem anderen Land sind so viele ausländische Handwerker und Firmen tätig wie bei uns. Sie setzen laut Gewerkschaftsbunds-Chefökonom ­Daniel Lampart schon zwei Milliarden Franken im Jahr um.

Cassis’ Amtszeit trägt die Handschrift des geübten Opportunisten.

Doch womöglich war Cassis Ausfall gar nicht unbedarft, sondern gezielt platziert. Insider sehen eine FDP-Achse am Werk, in die Cassis eingebettet ist. Sie reicht von seinem Generalsekretär und Ex-Geheimdienstchef Markus Seiler über FDP-Generalsekretär Samuel Lanz, der früher im Eidgenösssichen Departement für auswärtige Anglegenheiten (EDA) tätig war, bis zu Stefan Brupbacher, Generalsekretär von FDP-Bundesrat Johann Schneider-Ammann. Sie alle sind für Markt und gegen Lohnschutz, sagen es aber nicht laut. Das überlassen sie der radikalen SVP unter Martullo-Blocher. Zur FDP-Achse zählt aber auch Wirtschaftsminister Schneider-Ammann, der Cassis bei der Aufweichung des Lohnschutzes aktiv unterstützt.

Wenn also Cassis den Lohnschutz anzweifelt, besorgt er das Geschäft der Rechten. Gewerkschaftsbund-Präsident Paul Rechsteiner attackierte Cassis hart, er habe «den Kopf verloren». Auch Ex-Unia-Co-Präsident Renzo Ambrosetti schüttelt den Kopf: «Gerade als Tessiner sollte er das Lohndumping-Problem doch bestens kennen!» Cassis verstehe halt von der Sache nichts. Dazu passt, dass Cassis in seinem Haus in Montagnola einen Autolift einbauen liess. Von einer italienischen Firma, die ihren Monteuren die Verpflegung nicht bezahlte. Die Firma erhielt deswegen von der Paritätischen Berufskommission eine Busse.

RECHTSUMKEHR

Um der Linken zu schmeicheln, zitierte Cassis in seiner Antrittsrede die Sozialistin Rosa Luxemburg. Wenig später blinkte er aber nur noch rechts. Im Mai sagte er, das Uno-Hilfswerk für die Palästinenserflüchtlinge sei «ein Teil des Problems und nicht Teil der Lösung». Wenig erstaunlich, war Cassis doch als Na­tionalrat aktives Mitglied der Israel-Lobby (siehe Kolumne unten). Diese sieht in den ­Palästinensern vor allem Terroristen. Kurz darauf kam die Lohnschutzattacke. Rechts abbiegen kann Cassis aber weder in der Europapolitik noch beim Lohnschutz. Denn die «roten Linien» des Bundesrats gelten weiterhin. Hingegen trimmt Cassis den eigenen Laden auf Rechtskurs. Im Februar hat er Staatssekretärin Pascale Baeriswyl kaltgestellt. Die SP-Frau war bisher für die EU-Verhandlungen zuständig – und dauernde Zielscheibe der SVP. An ihrer Stelle ­installierte Cassis den Karrierediplomaten Roberto Balzaretti, ebenfalls Tessiner. Der soll dem Vernehmen nach in Brüssel über Lockerungen des Lohnschutzes sondiert haben.

Blocher hat mit Cassis einen
Totengräber im Bundesrat.

Cassis’ bisherige Amtszeit trägt die Handschrift des geübten Opportunisten. Schon vor der Wahl zeigte er grosse Wendigkeit. Er gab den italienischen Pass zurück, trat der Waffenlobby Pro Tell bei und dann wieder aus, nur um den Sprung nach Bern zu sichern. Jetzt scheint sich der Plan der Rechten zu erfüllen, mit Cassis den Bundesrat auf Rechtskurs zu bringen. Die Rüstungslobby lief im EDA jeweils auf, da ­Didier Burkhalter die Menschenrechte höher gewichtete als die Profite. Mit Cassis ändert sich das. Er, Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann und die erwähnte FDP-Funktionärsclique setzen ­gemeinsam die Interessen der Waffenhändler von Ruag, Mowag & Co. durch. Sie wollen Waffenexporte selbst in Länder erlauben, in denen Bürgerkrieg herrscht.

Und gleichzeitig exekutiert Cassis Blochers Pläne. Aber unabsichtlich. CVP-Präsident Gerhard Pfister hat es gemerkt: In einer Twitter-Nachricht schrieb er nach der Attacke auf den Lohnschutz, Cassis sei im Begriff, das Rahmenabkommen mit der EU «schicklich zu beerdigen». Weil dann nämlich die Gewerkschaften nicht mehr mitmachen. Blocher kann sich die Hände ­reiben. Er hat einen Totengräber im Bundesrat, der ihm die Arbeit abnimmt.

Ignazio Cassis: Kantonsarzt, Kranken-Cassis, Bundesrat

Eigentlich hatte er keine ­Zukunft. Dr. med. ­Ignazio Cassis (57) aus Sessa war Kantonsarzt im Tessin und ein Mann ohne Polit­profil. Aber er war ein Mediziner mit Wahlchancen. Just ­einen solchen suchte FDP-Chef Fulvio Pelli 2003 für die Nationalratsliste. Cassis landete auf Platz zwei, und im Juni 2007 rutschte er in den ­Nationalrat nach. Dort galt er fortan als der «Kranken-Cassis», weil er seit 2015 den Kassenverband Curafutura präsidierte. Ein Lobbyist unter vielen, aber mit einem satten Jahreslohn von 180’000 Franken. Als Bundesrat verdient er nun noch mehr. Und kann sich locker zwei Wohnsitze in Bern und Montagnola TI samt Pool und Prachtsaussicht leisten. Seine Frau Paola ist Chefärztin für Radiologie und mag nicht in Bern wohnen. Sie bleibt lieber im Tessin und macht ihren Job.


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