Dauerstress in Kliniken und Heimen – Pflegerin Jasmine Herbert (29) schlägt Alarm:

«Wir sind chronisch unterbesetzt»

Patricia D'Incau

Personalmangel, Druck und Arbeit nach Stopuhr: Damit kämpfen Pflegerinnen und Pfleger jeden Tag. Pflegefachfrau Jasmine Herbert arbeitet in der Psychiatrie – und erzählt:

AUS LIEBE ZUM JOB: Das Gesundheitssystem wird krank­gespart, dagegen wehrt sich Pflegerin Jasmine Herbert. (Foto: Nicolas Zonvi)

«Einen normalen Arbeitstag? Den gibt es in der Psychiatrie kaum. An manchen Tagen merke ich bereits bei Schichtbeginn: Die Stimmung ist angespannt. Ich beginne mich einzulesen, nehme Rapporte entgegen. Die Patienten sind auf der Abteilung, ich gehe auf die erste Runde, habe sie im Auge. Weitere Eintritte sind angekündigt. Wir haben 17 Patienten. Am Ende des Tages werden es 21 sein. Vielerorts gibt es dafür nur zwei Pflegende.

Es ist ein Marathon zwischen Büro und Krankenbett. Ich nehme Anrufe entgegen und die Bedürfnisse der Patienten. Ich spreche mit ihnen, versuche abzunehmen, was sie nicht mehr tragen können.

SCHWIERIGE MOMENTE. Wenn ein Mensch aus Angst heraus gewalttätig wird, müssen wir ihn abschirmen. Er kommt in einen Raum. Es gibt eine Matratze, einen Sessel, sonst nichts.

Während eine Patientin ‹in der Isolation ist›, muss ich im 15- bis 30-Minuten-Takt prüfen, ob alles in Ordnung ist. Hat sie sich nichts angetan? Hat sie Hunger oder Durst? Muss sie auf die Toilette? Braucht es ein Gespräch?

Wir haben zwei Isolationszimmer. Manchmal sind beide besetzt. Das Büro ist am anderen Ende des Gangs. Du musst hin und her, bist dauerbeschäftigt. Mit den Menschen in der Iso, der Dokumentation, dem Telefon und 19 Patienten, von denen jederzeit einer in eine Krise geraten kann. Das lässt sich nicht vorhersehen, du musst jederzeit darauf gefasst sein. Darauf, dass es brodelt. Dann braucht es ein Gespräch. Das braucht Zeit, die du nicht hast, weil du nur zu zweit bist. Aber eine Krise lässt sich kaum in zwei Minuten lösen. Und meine Aufgabe ist es, die Not zu lindern.

Klar geben wir auch Medikamente. Aber ich bin überzeugt: Gespräche braucht es. Ich muss mir die Zeit nehmen können, um zu fragen: Warum ist dieser Mensch in Not?
Wenn wir das nicht mehr tun können, dann sind wir nicht mehr Pflegerinnen. Sondern Wärterinnen. Wie es bis lange ins letzte Jahrhundert war.

Die Pflege wird öko­nomisiert, der Profit rückt ins Zentrum.

MEHR ARBEIT, WENIGER ZEIT. Ich will nicht dorthin zurück. Doch ich habe das Gefühl: Wir gehen dahin zurück. Zurück zur Verwahrung. Weil die Pflege ökonomisiert wird. Weil der Profit immer mehr ins Zentrum gerückt und Personal wegrationalisiert wird. Das geschieht schleichend. Das Perfide daran: Du hast mehr Arbeitsaufwand, aber weniger Personal. Wir sind chronisch unterbesetzt. Doch die Erwartung an uns ist: Egal wie, du musst deine Schicht durchziehen.

Die Schweiz hatte eines der besten Gesundheitssysteme. Hatte! Wir in der Pflege sehen jeden Tag, wie daran gespart wird. In der Psychiatrie, im Altersheim, im Spital. Dort kommt es seit der Einführung der Fallpauschalen immer wieder zu vorzeitigen Entlassungen. Das nagt an einer Pflegerin, wenn sie eigentlich weiss, dass eine Person noch nicht bereit ist, nach Hause zu gehen. Aber die Entlassung trotzdem vorbereiten muss. Weil die Klinik sagt: Wir bekommen kein Geld mehr für diese Patientin. Was für ein Gefühl gibt dir das?

Die Fallpauschalen kommen jetzt auch in der Psychiatrie. ‹Tarpsy› heisst das System. Was bedeutet das für uns und unsere Patienten? Wir wissen es noch nicht.

SICH WEHREN. Ich arbeite seit 10 Jahren in der Pflege. Und ich mag meine Arbeit. Weil ich Menschen darin unterstützen kann, wieder ins Leben zu finden. Ich will das weiter machen können. Und ich möchte wieder mehr Zeit für die ­Patientinnen und Patienten. Dafür lohnt es sich zu kämpfen! Wir beschweren uns ja nicht, weil wir Essen verteilen müssen. Das gehört zu unserem Job. Aber darüber, dass wir ältere Frauen eine halbe Stunde auf dem WC sitzen lassen müssen, weil wir gerade keine Zeit haben, sie wieder runterzuholen. Das ist doch menschen­unwürdig.

Und mit dieser Meinung bin ich nicht alleine. Aber: Viele Pflegerinnen haben Angst, sich zu wehren. Doch wenn wir etwas ändern wollen, müssen wir unsere Forderungen laut stellen. Auch auf der politischen Ebene. Denn: Es sind nicht einzelne Betriebe, in denen es nicht funktioniert. Das ganze System funktioniert nicht – das Profit­denken macht das Gesundheitswesen krank.

Wirklich etwas verändern können wir aber nur, wenn wir viele sind. Nicht 10, sondern 10’000. Wie unsere Kolleginnen in Deutschland. Sie haben es geschafft, Spitäler wie die legendäre Berliner ­Charité lahmzulegen. Jetzt wird dort das Pflegepersonal aufgestockt. Ein riesiger Erfolg! Doch so weit sind wir noch lange nicht. Zuerst müssen wir stärker werden. Und mutiger. Das ist mein Wunsch. Dass wir alle etwas mutiger werden.»

Aufgezeichnet von Patricia D’Incau

Personalmangel: Tausende fehlen

Am 12. Mai, dem Internationalen Tag der Pflege, machten Pflege- und Betreuungsangestellte in Bern klar: Es braucht griffige Massnahmen ­gegen den Personalmangel – und zwar subito. Denn: Geht es weiter wie bisher, fehlen 2025 rund 40’000 Pflegerinnen und Pfleger.
Kritisch ist es schon heute. Das zeigt die jüngste Umfrage der Unia Zürich unter 800 Pflegenden. Ihre Hauptprobleme: regelmässige Erschöpfung («soziale Kontakte bleiben auf der Strecke») und fehlende Zeit für gute Pflege. Dazu kommen Überstunden («eine 61,5-Stunden-Woche arbeiten ist zu viel!»), Krankschreibungen und Burnout.

AKTIV WERDEN. Darum hat die Unia ihre Arbeit im Pflege- und Betreuungssektor verdoppelt, und es entstehen Betriebsgruppen. Unia-Mann ­Samuel Burri sagt: «Der Personalmangel ist zu ­einem ­grossen Teil hausgemacht. Die Heimleiter müssen sich endlich gesprächsbereit zeigen.»

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