100 Jahre Landesstreik: Blocher, der Geschichtsverdreher

Wo ein Wille ist, ist auch ein Wilhelm – und ein Hitler

Stefan Keller

Im November will Christoph Blocher meinen Grossvater ehren. Er hat dazu eine Veranstaltung angekündigt mit alten Uniformen, Fahnen, Blocher-Gerede und Firlefanz. Leider ist Grossvater schon 1992 gestorben, eine kleine Ehrung, ein Dank, hätte ihn womöglich gefreut. Eher aber aus anderen Gründen, als Blocher meint.

RUHE UND PREUSSISCHE ORDNUNG: SVP-Führer Christoph Blocher (für einmal ganz links) will im November die blutige Zerschlagung des Generalstreiks feiern. Und den damaligen General Ulrich Wille (Mitte) gleich dazu. Wille, ein glühender Verehrer des deutschen Kaisers Wilhelm II. (rechts), hatte 1918 die Armee losgeschickt – gegen die streikenden Arbeiterinnen und Arbeiter. In Grenchen SO erschossen sie drei junge Männer – zwei von hinten. (Illustration: Igor Kravarik)

Mein Grossvater, Paul Keller, war 20 Jahre alt, als er im November 1918 unter Sturmgeläute nach Frauenfeld ritt und mit seiner Einheit, einer Dragonerschwadron, in die Umgebung von Zürich verschoben wurde. Oder militärisch gesprochen: an die Front geworfen wurde zur Bekämpfung der «sozialistischen Revolution».

Er glaubte, er müsse die Schweiz vor den Bolschewisten retten, die in Zürich hausten und den Umsturz planten. In den folgenden Tagen des Landesstreiks begegnete er jedoch nur zweimal demonstrierenden Arbeitergruppen. Das erste Mal in Oerlikon bei der Rennbahn, das zweite Mal in Flurlingen vor Schaffhausen. Einmal lud er das Gewehr, aber ohne zu schiessen, denn die Arbeiter verzogen sich schnell. Und einmal hielt er ein Auto an, in dem Nationalrat Fritz Platten sass, Mitglied des Oltener Aktionskomitees, das den Streik als Protest gegen das militärische Aufgebot ausgerufen hatte.

Mein Grossvater schrieb über seinen Einsatz noch im Dezember 1918 einen Bericht. Er wollte damit eine junge Frau beeindrucken, die später meine Grossmutter wurde, und so tönt der Text heldenhaft und pathetisch, einige Passagen sind sogar gereimt. Von den Anliegen der Streikenden ist auf den achtzig Notizbuchseiten allerdings nicht ein einziges Wort zu lesen. Die angeblichen Revolutionäre, die er bekämpfen sollte, erhalten kein Gesicht, und die Forderungen des Oltener Aktionskomitees – wie Frauenstimmrecht, 48-Stunden-Woche oder Altersversicherung – sind ihm anscheinend unbekannt. Schwer vorstellbar, dass er wegen des Wunsches nach einer Alters- und Invalidenversicherung auf andere Menschen geschossen hätte, sogar von hinten, wie die Soldaten in Grenchen das taten! Grossvater wird später froh sein um die AHV. Er ist ein Bauer aus dem Thurgau, ein anständiger Mann. Er kämpft gegen ein Phantom in den Städten, von dem er nur aus der Zeitung weiss oder aus alarmistischen Tagesbefehlen seiner Vorgesetzten.

GROSSVATERS TAGEBUCH: «Erinnerungen aus den Diensttagen im November 1918» von Paul Keller. (Foto: zvg)

ORDNUNG IM STAAT

Siebzig Jahre später erzählte mir Gross­vater mündlich vom Landesstreik, Grossmutter sass daneben und sagte: «Ich glaube, man hat uns seinerzeit auch getäuscht!» Er berichtete, wie ihn die Offiziere im Dienst schikanierten, diese Herrensöhnchen. Denn ein einfacher Bauer wäre bei der Kavallerie nie und nimmer Offizier geworden. Wie man ständig fror und hungerte. Wie der Feldweibel, während man aufs Essen wartete, im Stall die Sättel durcheinanderwarf, danach die Truppe zum Aufräumen schickte, und wenn sie zurückkamen, war die Essensausgabe vorbei. Zu Grossvaters Erinnerungen am Ende seines Lebens passte die aktuelle historische Forschung, etwa über die Familie von General Ulrich Wille: Sie verehrte den deutschen Kaiser Wilhelm II. sowie den preussischen Militarismus. Demokratischen Widerspruch betrachtete sie als Meuterei. Und just Ulrich Wille kommandierte die Armee im Landesstreik, deren Heldentaten Blocher rühmen will.

Von dieser nazifreundlichen Bande wurde meinem Grossvater befohlen, gegen Arbeiter und Arbeiterinnen zu kämpfen.

Zu Grossvaters Erinnerungen passt auch Oberstdivisionär Emil Sonderegger, der Platzkommandant in Zürich, der Handgranaten austeilte, damit sie in ­Arbeiterwohnhäuser geworfen werden konnten. Sonderegger hat 1933 ein Buch veröffentlicht mit dem Titel «Ordnung im Staat», es steht Adolf Hitlers «Mein Kampf» inhaltlich wenig nach. Hitler selber wurde 1923 vom Wille-Clan nach Zürich eingeladen, begeistert empfangen und mit Geld versorgt. Im Zweiten Weltkrieg versuchte dann der Sohn Ulrich Willes, mit Hilfe der Deutschen, den Westschweizer General Henri Guisan zu stürzen, um selber General zu werden.

HUNGER UND KRANKHEIT

Von dieser grossbürgerlichen, später nazifreundlichen Bande, die stets in Saus und Braus gelebt hat, wurde meinem Grossvater im November 1918 also befohlen, gegen Arbeiter und Arbeiterinnen zu kämpfen, die jahrelang hatten hungern müssen. Und für seinen Einsatz im Generalstreik will Oberst und Milliardär Christoph Blocher meinen Grossvater jetzt ­ehren und ihn damit noch einmal missbrauchen.

Grossvater hat im hohen Alter mit trockenem Humor auch den eigenen Einsatz von 1918 in Frage gestellt, obwohl er nie ein Linker war. Blocher bleibt auch im Alter unbelehrbar bei seinen Klischees. Obschon mehrfach bewiesen wurde, dass der Landesstreik nicht ein Revolutionsversuch von ein paar Drahtziehern, sondern eine grosse demokratische Bewegung war, an der ungefähr 250’000 Schweizerinnen und Schweizer teilnahmen, wiederholt Blocher starrsinnig die alte Geschichte vom bolschewistischen Putsch, der nur mit tapferen Soldaten wie meinem Grossvater verhindert werden konnte.

Grossvater Keller ist übrigens am Ende des Generalstreiks krank geworden. Um ein Haar wäre er an der Spanischen Grippe gestorben. Die Matratze musste er zunächst mit einem anderen Schwerkranken teilen, weil die Armeeleitung nicht einmal genug Matratzen bereitstellte. Im Fieberwahn schlugen die beiden einander ins Gesicht. Das war der Dank des Vaterlandes.

Landesstreik 1918: Dokumente gesucht!

work und der Historiker Stefan Keller nehmen gerne weitere Berichte vom Landesstreik 1918 entgegen. Ob von Arbeiterinnen und Arbeitern oder von Soldaten. Falls Sie in Ihren Familienpapieren noch Aufzeichnungen oder Dokumente aus jener Zeit besitzen: bitte stellen Sie uns diese zur Verfügung. Sorgfältiger Umgang garantiert, keine Veröffentlichung ohne Rücksprache. redaktion@workzeitung.ch und stefankeller1@bluewin.ch


Landesstreik-Gedenkjahr 2018: Die Events

Das Gedenken an den einzigen landesweiten Generalstreik der Schweiz zieht sich durchs ganze Jahr hindurch. Bereits ausgestrahlt hat das Schweizer Fernsehen die Doku-Fiktion «Generalstreik 1918 – die Schweiz am Rande des Bürgerkriegs» von Hansjürg Zumstein (siehe unten). Bereits erschienen ist auch die Broschüre «100 Jahre Landesstreik. Ursachen, Konfliktfelder, Folgen» des Gewerkschaftsbunds. Ein Reader zur Tagung vom 15. 11. 2017 mit Beiträgen von Bernard Degen, Adrian Zimmermann, Elisabeth Joris, Stefan Keller und Paul Rechsteiner. Im März eröffnet das Neue Museum Biel die Ausstellung «1918: Krieg und Frieden», die ums Streikthema herum gebaut ist. Weitere regionale Ausstellungen planen die Museen von Olten und Grenchen SO, wo die Armee seinerzeit drei Arbeiter erschoss.

GROSSPRODUKTION. In der Alten Hauptwerkstätte beim Bahnhof Olten ist vom 16. August bis 23. September das Theaterprojekt «1918.CH» zu sehen. 20 Theatergruppen aus allen Landesteilen machen bei der Grossproduktion von Liliana Heimberg mit 200 Spielerinnen und Spielern mit. Ein interaktives Video­projekt realisiert Anita Hugi unter dem Titel «Six mois avant», in dem das Leben von sechs fiktiven Frauen im Vorfeld des Streiks im Zen­trum steht. Zudem gibt’s neue Bücher: so den Sammelband «Krieg und Krise» (im Oktober im Verlag Hier + Jetzt) sowie ein zweisprachiges Spezialheft der historischen Zeitschrift «Traverse» und der Westschweizer Vereinigung zum Studium der Geschichte der Arbeiterbewegung (AEHMO).

Die zentrale Gedenkfeier findet am Samstag, 10. November, in Olten statt. Dort traf sich im Februar 1918 erstmals das gewerkschaftliche Streik­komitee (siehe links). Der Anlass wird vom Gewerkschaftsbund, der Sozialdemokratischen Partei und der Robert-Grimm-Gesellschaft getragen. Ab November zeigen das Landesmuseum in Zürich und das Zürcher Sozialarchiv eine Sonderschau. (rh)


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1 Kommentar

  1. Baumgartner Ueli

    Ich lese wieder einmal „Der Landesstreik 1918“ von Willy Gautschi (Benziger Zürich Einsiedeln Köln 1968). Dem Vernehmen nach soll es sich dabei um die beste Arbeit über den Landesstreik handeln. Ich empfehle es allen, sogar den Geschichstklitterern am Zürichsee und an der Brückfeldstrasse.

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