Die Ungleichheit war noch nie so gross wie heute

Weshalb ist die Welt so ungerecht?

Ralph Hug

Inzwischen besitzt das reichste Prozent der Weltbevölkerung mehr als die anderen 99 Prozent zusammen. Daran schuld ist auch Finanzminister Ueli ­Maurer, sagt Globalisierungsexperte ­Dominik Gross.

LUXUSVILLEN UND WELLBLECHHÜTTEN. Nur durch eine Strasse getrennt, leben Reich und Arm in Johannesburg, Südafrika. (Foto: Unequalscenes.com)

work: Dominik Gross, die Ungleichheit wird weltweit immer extremer. Das zeigt der neue Bericht der globalen Entwicklungsorganisation Oxfam. Wie reagieren Sie auf diese News?
Dominik Gross: Mich empört die absolute Gleichgültigkeit der grossen Mehrheit in der Schweizer Politik auf diesen Skandal. Das ist manchmal schwer auszuhalten.

Gigantische Vermögen konzentrieren sich in immer weniger Händen. Was treibt diese Entwicklung an?
Vor allem die Deregulierung der Finanzmärkte. Seit den 1970er Jahren kann das Kapital frei zirkulieren und sich vermehren, ohne dass noch eine produzierende Fabrik im Spiel ist. Heute macht die Mehrheit der Konzerne an der US-Börse die Gewinne nicht mit der Produktion, sondern mit Finanzanlagen. Weiter können gewaltige Daten­mengen in Sekundenschnelle verarbeitet werden. Die Kapitalvermehrungsmaschine lief in den letzten vierzig Jahren immer schneller.

Dominik Gross (36) ist Wirtschaftshistoriker. Er arbeitet bei Alliance Sud, der entwicklungs­politischen Arbeitsgemeinschaft von Schweizer Hilfswerken. Dort ist er für die Bereiche internationale Finanz- und Steuerpolitik zuständig.

Woran sieht man das?
Die grossen Konzerne bilden mittlerweile quasi Parallelstaaten. Sie bestimmen die Preise für ihre Güter selbst. 60 bis 80 Prozent des Welthandels erfolgen gar nicht mehr zwischen eigenständigen Unternehmen, sondern innerhalb von Konzernen mit ihrem globalen Firmennetz. Von einem echten Markt kann keine Rede sein.

Und diese Multis zahlen ­immer weniger Steuern?
Ja, die Steuersysteme wurden schleichend umgebaut. In den 1950er Jahren mussten Firmen in den USA noch über 50 Prozent Steuern auf ihre Gewinne zahlen, heute liegt dieser Satz in Hongkong bei 10 Prozent und in einigen Schweizer Kantonen nur knapp darüber. Das führt dazu, dass immer mehr Kapital in den Händen von wenigen verbleibt. Also bei den Aktionären der Konzerne. Seit der Finanzkrise kostet zudem Geld fast nichts. Noch mehr kann noch schneller angelegt werden. Dank der Tiefzinspolitik kann man auch mit Geld hantieren, das einem gar nicht gehört, ohne dass dies etwas kostet. Sinnvoll wäre ja, dass Mittel in die Produktion investiert würden, zum Beispiel in den ökologischen Umbau. Das geschieht aber viel zu wenig. Stattdessen fliesst das Geld auf den Finanzmarkt und in die Spekulation.

Wem genau schadet diese Entwicklung?
Nehmen Sie als aktuelles Beispiel Tunesien. Seit 2011 hat sich dort eine junge Demokratie entwickelt. Jetzt gibt es auf dem Land Unruhen, weil die arme Bevölkerung die Lebenskosten nicht mehr aufbringen kann, auch wegen der neoliberalen Reformen des Internationalen Währungsfonds (IWF). Die tunesische Bevölkerung kann nur das Nötigste kaufen, trägt aber via Mehrwertsteuer am meisten zum Staatshaushalt bei. Dagegen zahlen Firmen und reiche Private wenig Steuern. Das alles verschärft die Ungleichheit. Auch kann der Staat nicht mehr via Steuern Geld von Reich zu Arm umverteilen. Gemäss IWF werden den Entwicklungsländern durch Steuerflucht jährlich 200 Mil­liarden Dollar entzogen.

Zur Bekämpfung von Ungleichheit und Armut fordert Oxfam eine Steuer auf Finanztransaktionen. Dies würde viel Geld einbringen. Sie ist auch schon seit Jahren im Gespräch. Warum kommt sie nicht?
Zehn EU-Staaten, darunter Deutschland und Frankreich, haben sich dafür ausgesprochen. In diesen Ländern ist die Einführung eigentlich beschlossen. Aber die konkrete Umsetzung steckt im Moment in Verhandlungen fest. Eine solche Steuer wäre sehr wertvoll. Sie würde auch die Spekulation, unter anderem mit Nahrungsmitteln, eindämmen und im globalen Süden das Risiko von Hungerkrisen mindern.

Eine Steuer auf Finanztrans­aktionen wäre sehr wertvoll.

Kommen wir zur Steueroase Schweiz. Jahrzehntelang verfolgten die Banken das Geschäftsmodell Steuerflucht, Steuervermeidung, Geldwäscherei und Diktatorengelder. Das ist vorbei. Nun sagte Privatbankenchef Yves Mirabeaud kürzlich in der NZZ, der Finanzplatz Schweiz sei «mehr denn je ein zuverlässiger und solider Partner».
Die Frage ist: Für wen ist die Schweiz Partnerin? Sie befolgt jetzt die Regeln der OECD, aber nur auf dem absoluten Minimum. Der automatische Austausch von Informationen (AIA) läuft mit den EU-Ländern, ab nächstem Jahr auch mit Schwellenländern wie China und Russland. Aber viele Länder etwa in Afrika sind noch nicht dabei.

Eine Schweizer Privatbank ist zumindest vom Gesetz her immer noch eine zuverlässige Partnerin für einen Milliardär aus Kamerun, der sein Geld in der Schweiz parkieren will. Dieser muss kaum Angst haben, dass die kamerunischen Steuerbehörden das merken. Denn es mangelt an den technischen Standards, die es Kamerun erlauben würden, beim AIA mitzumachen. Das andere Problem ist, dass die Leute, die in solchen Regierungen sitzen, oft selbst ein Interesse daran haben, dass ihre Vermögen unter Verschluss bleiben. Ihr Wille zur Transparenz ist sehr beschränkt.

Dann löst der Informationsaustausch das Problem der Steuerflucht gar nicht?
Er hat extreme Lücken. Das zeigen die Panama Papers. Nach wie vor können Schweizer Anwaltskanzleien undurchschaubare Konstrukte mit Briefkastenfirmen an global verschiedenen Standorten errichten.

Und die Eigentümer bleiben unbekannt?
Ja. Wichtig wäre ein öffentliches Register der wirtschaftlich Berechtigten. Das gibt es nicht. Das Problem ist aber auch, dass Anwälte, Treuhänder und Immobilienhändler nicht die gleichen Sorgfaltspflichten wie Banken haben. Sie müssen nicht prüfen, ob die Kundschaft, für die sie Konstrukte bauen und Häuser kaufen, das Geld legal erworben habe.

Die Industrie der Steuervermeider hat direkte Drähte in die Politik.

Es ist also wie beim Doping: Die Täter sind den Verfolgern stets eine Nasenlänge voraus.
Der Vergleich ist sicher berechtigt. Das hat auch die Unternehmenssteuerreform III gezeigt. Die Steuervermeidungsindus­trie hat direkte Drähte in die Politik. Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben erzählt, dass sie über Nacht neue Unterlagen erhielten und schon am nächsten Morgen in der Kommission darüber entscheiden mussten.

Die EU hat die Schweiz von der schwarzen Liste genommen und auf die graue gesetzt. Dort sind Länder versammelt, die zwar kooperieren, aber immer noch unfaire Steuerpraktiken verfolgen. Was heisst das?
Es geht um die berühmten Briefkastenfirmen und die Steuervorteile für ausländische Konzerne. Weil die Unternehmenssteuerreform III vor einem Jahr abgelehnt wurde, gelten diese Privilegien weiter. Nun macht die EU mit der grauen Liste deswegen Druck. Wobei sich die EU weniger an den Privilegien stört als daran, dass diese Tricks nicht für alle Firmen gelten.

SVP-Finanzminister Ueli Maurer muss nach seiner Niederlage eine neue Vorlage bringen. Sie ist auf März angekündigt. Wie sieht es aus?
Die «Steuervorlage 17», wie sie heisst, enthält weiterhin problematische Instrumente wie etwa die Patentbox. Diese bietet neue Steuerschlupflöcher. Die Vorlage ist weitgehend alter Wein in neuen Schläuchen. Zu befürchten ist, dass das Parlament auch wieder mit der zinsbereinigten Gewinnsteuer kommt. Wir müssen abwarten, was passiert. Aber ein wenig enttäuscht bin ich schon.

Weshalb?
Die Siegerinnen und Sieger der Abstimmung – also SP, Grüne und Gewerkschaften – hätten offensiver auftreten können. Denn die Situation ist günstig. Die EU macht Druck, und die Stimmberechtigten wollen keine übertriebenen Steuervorteile für Konzerne mehr. Wir von Alliance Sud verlangen die ersatzlose Abschaffung aller Sondersteuerregime.

Das würde aber Arbeits­plätze kosten.
Briefkastenfirmen haben nur sehr wenig Personal. Wenn diese wegziehen, kostet das nur wenige Jobs.

Worauf warten wir dann noch? Warum schafft die ­Politik diese Steuerge­schenke für Multis nicht ab?
Die Wirtschaftslobbyisten haben kein Interesse, dass diese Schlupflöcher verschwinden. Zum Beispiel Beratungsunternehmen wie KPMG oder PWC. Sie beschäftigen Dutzende von Fachleuten, die auf Steuervermeidung und Steuerschlupflöcher spezialisiert sind. Und die grossen Medienhäuser anerkennen zwar durchaus die Probleme mit der ­Steuerflucht und den Gewinnverschiebungen der Unternehmen. Aber sie sagen, die kleine Schweiz könne wenig machen und müsse sich doch gegen die Grossen behaupten. Dabei ist der Schweizer Finanzplatz global gesehen ein Riese. Wir sind immer noch der grösste Platz der Welt für parkierte Gelder, 50 Prozent des weltweiten Rohstoffhandels laufen über die Schweiz.


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