Neue Studie von Arbeitsforschern beweist:

Deregulierung macht dick

Ralph Hug

Die Zahl fett­leibiger Menschen nimmt stark zu. Die wirtschaftliche Unsicherheit trägt dazu bei, sagen Forscher.

Ein Polster für magere Zeiten: Forscher reden von der «unbewussten Verfettungsreaktion». (Bild: Fernando Botero)

Wer hätte das gedacht? Ausgerechnet jene, die in der Politik immer von «Fitness» und «Abmagerungskur» reden, tragen zur Fettleibigkeit bei. Dies jedenfalls haben Forscher der Universität Otago in Neuseeland herausgefunden. Am Institut für Arbeitsökonomie haben sie den Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Unsicherheit und Fettleibigkeit untersucht. Die Zunahme von Menschen mit Übergewicht ist in den Industrieländern schon seit längerem ein Phänomen. Am besten sichtbar in den USA: Das erste, was einem dort auffällt, sind nämlich die vielen dicken Menschen.

Fachleute sprechen bereits von einer Epidemie von Adipositas, wie krankhafte Fettleibigkeit im Fachjargon heisst. In den USA leiden bereits 35,3 Prozent daran. In Deutschland, Grossbritannien, Kanada, Neuseeland oder Tschechien sind es ebenfalls weit über ein Fünftel. Die Schweiz steht mit 10,3 Prozent noch vergleichsweise gut da. Der Schnitt in den Ländern der OECD beträgt 18,4 Prozent. Doch die Zunahme ist dramatisch, weshalb sich die Frage nach den Ursachen stellt.

FETTRESERVEN FÜR NOTZEITEN

Meist werden ungesunde Ernährung mit Fastfood und überzuckerten Limonaden sowie Bewegungsmangel als Hauptgründe genannt. Das ist auch unbestritten. Doch die Arbeitsforscher aus Neuseeland sehen auch mangelnde wirtschaftliche Sicherheit als einen wichtigen Faktor an. Dieser sei zu 50 Prozent für die Epidemie an Fettleibigkeit verantwortlich, so ihre These in einem kürzlich veröffentlichten Arbeitspapier. Sie stützen sich dabei auf Daten aus den USA sowie auf Annahmen aus der Verhal­tens­ökologie. Diese besagen, dass der Energiehaushalt der Menschen von uralten physiologischen Prozessen gesteuert wird. Sie stammen aus einer Zeit, als nicht immer genug Nahrung zum Überleben vorhanden war. So legte der menschliche Körper automatisch Fettreserven an, um in Notzeiten dem Hungertod zu entgehen. Auch wenn der Hunger in den Industrienationen heute keine Rolle mehr spiele, seien diese ererbten Verhaltensmuster immer noch wirksam, argumentieren die Forscher. Und daher gebe es in wirtschaftlich unsicheren Zeiten auch heute noch unbewusste Verfettungsreaktionen.

DER NACHWEIS

Die These wird durch eine statistische Analyse gestützt. «Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Unsicherheit und Fett­leibigkeit», so die Forscher. Dabei ­berücksichtigten sie folgende Definitionen: Als fettleibig betrachten sie alle Personen, die einen Body-Mass-Index von über 30 haben. Und als Indikator für die Unsicherheit ziehen sie alle jene Personen einer Gruppe in Betracht, die innert eines Jahres einen Einkommensverlust vom mindestens 25 Prozent hinnehmen mussten.

DIE VERANTWORTLICHEN

Die Studienergebnisse sind plausibel. Denn gerade diejenigen Länder, die ihre Volkswirtschaften am meisten dereguliert haben, weisen auch die höchsten Zuwachsraten bei der Fettleibigkeit auf. Kein Wunder, sind dies fast alles Länder aus dem angelsächsischen Raum. Dort regiert im Fahrwasser der ehemaligen britischen Premierministerin Thatcher und des Ex-US-Präsidenten Ronald Reagan seit nunmehr über dreissig Jahren die Ideologie der Privatisierung und des Abbaus von Arbeitnehmerrechten. Sie hat Millionen von Beschäftigten in unsichere Verhältnisse gestürzt. Oder es sind Länder wie Chile, die als Versuchslabor für neoliberale Experimente herhalten mussten.

Laut den Forschern müssen hohes Übergewicht und die daraus re­sultierenden Gesundheitsprobleme demnach als unvorhergesehene Kosten der Deregulierung angesehen werden. In der Studie heisst es: «Die Politik der Deregulierung mag gut gemeint sein, aber sie verstärkt das Problem der wirtschaftlichen Unsicherheit und dürfte die globale Epidemie von Adipositas vermehrt haben.»

Trenton G. Smith, Steven Stillman, Stuart Craig: Rational Overeating in a Feast-or-Famine World: Economic Insecurity and the Obesity Epidemic, Institute of Labour Economics, University Otego, New Zealand, Discussion Paper, August 2017. Deutsche Zusammenfassung auf: www.boeckler-impuls.de, Ausgabe 16/2017.

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