Alt Bundesrichter Niccolò Raselli erklärt, warum die Selbstbestimmungsinitiative der SVP so gefährlich ist:

SVP will Gerichte gängeln

Christian Egg

Der SVP gehe es gar nicht um «fremde Richter», sagt alt Bundesrichter Niccolò Raselli. Vielmehr sollen die Schweizer Gerichte auf SVP-Linie gebracht werden.

SCHON WIEDER. Die SVP-Initiaive bringt Grundrechte in Gefahr. (Foto: Allianz der Zivilgesellschaft)

work: Mit ihrer Initiative kämpft die SVP angeblich gegen «fremde Richter» in Strassburg …
Niccolò Raselli: Das ist ein Etikettenschwindel! Die Initiative richtet sich gegen unsere eigenen Gerichte. Mit der Ausschaffungsinitiative wollte die SVP 2010 per Volksentscheid einen recht­lichen Automatismus einführen: Bei gewissen Delikten sollten Ausländer ausgeschafft werden, ohne dass die Richter den Einzelfall prüfen. Das Parlament sagte dann aber: «Stop, da gibt es die Europäische Menschenrechtskonvention.» Deshalb fügte es im Gesetz eine Härtefallklausel ein. Darauf brachte die SVP die Durchsetzungsin­itiative, die das Stimmvolk zum Glück ablehnte. Die Selbstbestimmungsinitia­tive ist jetzt der nächste Versuch der SVP, unsere Richter zu entmachten.

Alt Bundesrichter Niccolò Raselli. (Foto: Keystone)

Die SVP will erzwingen, dass die ­Justiz in ihrem Sinn entscheidet?
Ja! Christoph Blocher hat dem Bundesgericht einen «Staatsstreich» vorgeworfen, als ihm ein Urteil nicht passte. Am massivsten ist dieser Druck bei den Richtern, die von der SVP vorgeschlagen wurden, etwa dem Bundesrichter Yves Donzallaz. Er hat im Ausländerrecht einige Urteile mitgetragen, die mit den Forderungen der SVP nicht übereinstimmen. Darauf erschien 2017 ein Artikel in der «Weltwoche» von SVP-Nationalrat Roger Köppel, der Donzallaz als «grössten Internationalisten» diffamierte – für die SVP gleichbedeutend mit «Landesverräter». Und die Partei wollte ihn nach Bern zitieren, er hat sich aber geweigert. Der Fall zeigt, was die SVP von der richterlichen Unabhängigkeit hält.

Zurück zu den Richtern in Strassburg. Die haben die Schweiz schon mehrmals gerügt.
Gottlob! Vielen Grundrechten, die heute in unseren Gesetzen verankert sind, hat erst der Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg zum Durchbruch verholfen.

Zum Beispiel?
Menschen, die vor Gericht freigesprochen wurden, mussten bis 1988 sehr oft trotzdem Verfahrenskosten bezahlen. Und zwar dann, wenn sie nach Ansicht des Gerichts nicht strafbar, aber «unordentlich» oder «unsittlich» gehandelt hatten. Diese Kosten waren manchmal höher, als es die Busse im Fall einer Verurteilung gewesen wäre. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen. Erst nach einem Urteil aus Strassburg behob die Schweiz diesen Missstand.

«Die Abstimmung ist noch nicht
gewonnen. Es braucht jede
Nein-Stimme.»

Was passiert, wenn die Initiative angenommen wird?
Unzählige internationale Verträge würden in Frage gestellt. Aus der Euro­päischen Menschenrechtskonvention müsste die Schweiz meiner Ansicht nach sofort austreten, denn nur schon die Anti-Minarett-Initiative verstösst dagegen. Noch schlimmer: Es gäbe keinen Damm mehr, wenn via Volksinitia­tiven rechtliche Automatismen eingeführt würden und damit die Justiz als dritte Gewalt unterlaufen würde, wie dies die SVP gern möchte.

In den Umfragen überwiegt derzeit das Nein zur Initiative. Sind Sie zuversichtlich, dass sie abgelehnt wird?
Nein. Die flächendeckende SVP-Kampagne ist trügerisch und in meinen Augen feige, weil kein Absender draufsteht. Damit zielt die Partei auf Leute in der politischen Mitte. Die Abstimmung ist noch nicht gewonnen. Es braucht jede Stimme!


Kampagne Dringender Aufruf

Niccolò Raselli, von 1995 bis 2012 Bundesrichter, war vor zwei Jahren ­einer der Initianten des Dringenden ­Aufrufs gegen die Durchsetzungs­initiative der SVP. Und hatte Erfolg: Das Stimmvolk ­versenkte die Initiative mit 59 Prozent Nein.

SPENDEN. Jetzt ist der Aufruf wieder aktiv, gegen die sogenannte Selbstbestimmungsinitiative. Erneut wirbt er mit einem markanten «Nein» in zackiger schwarzer Schrift. Geplant waren 200 Plakate an den grössten Schweizer Bahnhöfen. Aber
ein erster Aufruf Mitte Oktober ­brachte bereits nach ­wenigen Tagen ­uner­wartet hohe Spenden. Jetzt kann das Komitee schon 1000 Plakate finanzieren. Es sollen noch mehr werden. Selber unterschreiben und allenfalls spenden: dringender-aufruf.ch

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