Ruth Bollinger erzählt die Lebensgeschichte ihrer Grossmutter
Ein Arbeiterinnen-Leben

Elsa Hoffmann hiess später Polák und Bollinger, wurde 1893 in Böhmen-Mähren geboren und starb 1978 in der Schweiz. Sie war Arbeiterin, Migrantin, Mutter. Autorin Ruth Bollinger nähert sich mit einer Roman-Biographie dem Leben ihrer Grossmutter.

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EINBLICKE IN DAS FAMILIENALBUM: Elsa Hofmann im Jahr 1913 und ihr früherer Mann Karel. (Foto: pd)

Es beginnt mit einem Geruch. Moderig, staubig, leicht süsslich. Kein grosses Ereignis, kein dramatischer Fund. Da ist einfach ein Keller, darin stehen alte Schachteln, darin liegt vergilbtes Papier. Wer Elsas Alben aufschlägt, merkt rasch: Dieses Buch ist nicht auf den schnellen Effekt aus. Es nähert sich seinem Gegenstand vorsichtig und tastend. Oder schon beinahe widerständig gegen jede Form von Dramatisierung. Und genau darin liegt seine Qualität. 

Eine Grossmutter

Im Zentrum steht Ruth Bollingers* Grossmutter Elsa Hoffmann, später Polák und Bollinger. Geboren 1893 in Böhmen-Mähren, gestorben 1978 in der Schweiz. Eine Frau der Arbeiterklasse, Migrantin, Mutter, politisch engagiert. Keine historische Figur im Sinn der klassischen bürgerlichen Geschichtsschreibung. Und gerade deswegen lassen sich an Elsa die sozialen, politischen und biographischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts exemplarisch ablesen.

Das Buch entfaltet dieses Leben nicht als lückenlose Biographie, sondern in Szenen, die sich aneinanderreihen, überlagern, manchmal auch widersprechen. Eine der stärksten dieser Szenen spielt 1965: Elsa, inzwischen 72, fliegt in die Tschechoslowakei und besucht Karel, den ersten Mann, von dem sie sich ein halbes Jahrhundert zuvor hatte scheiden lassen. Die beiden sitzen in seiner Stube, er schwatzt von alten Zeiten, sie lacht viel. Kein Drama, keine Abrechnung, nur zwei alte Leute, die etwas abrunden. Bollinger erzählt das ohne Sentimentalität und darum besonders eindrücklich.

AUS ELSAS ALBEN: Führungspersönlichkeiten der sozialistischen Weltbewegung. Auf der linken Seite: August Bebel (oben), Giacomo Matteotti (Mitte), Rosa Bloch (Mitte), E. Kagosinnikoff (unten, vermutlich eine russische Sozialrevolutionärin). Auf der rechten Seite: Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg (oben), Clara Zetkin (Mitte links) und Karl Marx (Mitte rechts). (Foto: pd)

Migration und Arbeit, Ehe und Scheidung, Mutterschaft, politische Organisation, Alltag im Schatten von Krieg, Faschismus und sozialem Kampf erscheinen nicht als grosse Erzählung, sondern als gelebte Praxis. Bollinger erzählt diese historische Ebene ruhig, präzise und ohne Pathos. Politik ist hier nicht der Kampf vermeintlich oder tatsächlich grosser Männer an Versammlungen, auf der Strasse, in den Betrieben und in den Parlamenten. Politik ist hier etwas, das sich im Waschhaus, auf dem Fabrikvorplatz oder im Gespräch mit den Kindern konkretisiert.

Die Recherche

Dieser historischen Erzählung stellt die Autorin eine zweite Ebene zur Seite: die Gegenwart der Recherche. Sie beschreibt das Sichten von Fotoalben, den Gang ins Archiv, den Blick in amtliche Register und die Konfrontation mit Leerstellen. Es gibt keine Tagebücher, kaum Briefe, viele offene Fragen. Anstatt diese erzählerisch zu schliessen, macht Bollinger sie sichtbar und nimmt sie ernst. Die Recherche selbst wird zum Thema, als Prozess zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen dem Wunsch nach Klarheit und der Einsicht in ihre Grenzen.

ERINNERUNGEN: In den Fotoalben ist auch das Familienleben festgehalten. (Foto: pd)

Gerade diese doppelte Struktur trägt das Buch. Die historische Ebene zeigt ein gelebtes Leben, die Gegenwartsebene macht deutlich, wie schwer es ist, dieses Leben im nachhinein zu fassen. Erinnerung erscheint nicht als verlässlicher Speicher, sondern als brüchiges Gefüge aus Dokumenten, Bildern und Vermutungen. Die Fotoalben, das leitende Motiv des Buches, ordnen nichts. Sie irritieren, sie widersprechen. Sie machen sichtbar, wie selektiv Überlieferung funktioniert. 

Geschichte von unten

Thematisch bewegt sich «Elsas Alben» im Feld von Erinnerung und Vergessen, von weiblicher Handlungsmacht und historischer Unsichtbarkeit. Es ist ein Buch über Geschichte von unten, über Migration vor und nach 1918, über Arbeitermilieus und politische Selbstorganisation. Zugleich ist es ein Buch über die Familie als Ort des Schweigens, nicht aus Böswilligkeit, sondern aus Schutz, aus Notwendigkeit, aus den Bedingungen der jeweiligen Zeit.

1943: Elsa Hoffmann bei der Arbeit. (Foto: pd)

Zu den grossen Stärken des Buches zählt seine methodische Redlichkeit. Bollinger erklärt nicht, was sich nicht erklären lässt. Sie verzichtet auf psychologische Zuschreibungen dort, wo die Quellen fehlen, und widersteht der Versuchung, aus Fragmenten eine geschlossene Erzählung zu formen. Zu dieser Redlichkeit gehört auch, dass Bollinger ein Kapitel nicht ausspart, das sie selbst lange umkreist hat: die sexuellen Übergriffigkeiten von Elsas ältestem Sohn, also dem Onkel der Autorin. Keine Anklage, sondern die nüchterne Frage, wie Elsa damit umging, was sie wusste, was sie verdrängte. Und die Einsicht, dass sich das aus den Quellen nicht beantworten lässt. Bollinger verzichtet konsequent auf nachträgliche Deutung. Sie schreibt nicht, warum etwas geschah, sie benennt keine Motive, sie rekonstruiert keine Täterpsychologie. Sie legt offen, wie begrenzt das Wissen selbst innerhalb der Familie war. Und wie stark das Schweigen als familiärer Schutzmechanismus wirkte. Der Text bleibt dabei stets auf der Seite der Betroffenen.

Gerade weil das Buch auch hier nicht mehr behauptet, als es belegen kann, gewinnt es an Glaubwürdigkeit. Diese Zurückhaltung ist integer, sie kann aber auch fordern. Manches bleibt bewusst unterbelichtet, manches hätte man gerne länger ausgehalten.

Keine Sensation. Gut so!

«Elsas Alben» ist kein Roman, der auf Auflösung zielt, und keine Familiengeschichte, die ihre Geheimnisse vorführt. Es ist ein Buch, das zeigt, wie viel Geschichte in unscheinbaren Leben steckt und wie wenig davon selbstverständlich bewahrt wird. Wer Sensation sucht, wird wohl enttäuscht. Wer sich jedoch auf die präzise und politisch wache Annäherung einlässt, liest ein Buch, das nachwirkt, nicht weil es Antworten liefert, sondern weil es erzählend die richtigen Fragen stellt.

*Die Autorin: Ruth Bollinger (1951) wuchs in Beringen SH auf und besuchte in Schaffhausen die Kantonsschule. Heute lebt sie in Luzern. Bollinger studierte einige Semester Geschichte, Europäische Volksliteratur, Pädagogik und Allgemeines Staatsrecht an den Universitäten Zürich und Marburg (D). Von 1989 bis 2016 war sie Dekanatssekretärin an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich.

Das Buch

Ruth Bollinger: Elsas Alben. 205 Seiten, zahlreiche Abbildungen. Verlag am Platz Schaffhausen, ISBN 978-3-908609-20-9. Erhältlich im Buchhandel oder direkt beim Verlag über diesen Link.

*Die Autorin
Ruth Bollinger (1951) wuchs in Beringen SH auf und besuchte in Schaffhausen die Kantonsschule. Heute lebt sie in Luzern. Bollinger studierte einige Semester Geschichte, Europäische Volksliteratur, Pädagogik und Allgemeines Staatsrecht an den Universitäten Zürich und Marburg (D). Von 1989 bis 2016 war sie Dekanatssekretärin an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität Zürich.

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