Neue Unia-Gruppe gegründet
Büezer aus Polen organisieren sich gegen Ausbeutung

Die polnische Community in der Schweiz wächst seit Jahren stark. Doch viele der Neuzuzüger werden hier schamlos ausgenutzt. Jetzt geht die neue Gewerkschaftsgruppe «Polacy w Unia» in die Offensive!

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DER VORSTAND DER NEUEN UNIA-GRUPPE: (v.l.) Präsident Krzysztof Boś, die Vize-Präsidentinnen Daria Okoń und Martyna Pawlak sowie Krzysztof Mróz und Marcin Kosiński. (Foto: zvg)

Der polnische Konsul in Bern, Maciej Kowalczyk, hatte sich zwar kurzfristig entschuldigt. Nicht aber ohne den «Polacy w Unia» viel Erfolg in ihrer «wichtigen Arbeit» zu wünschen.

Die «Polinnen und Polen in der Unia» – so heisst eine neue Gewerkschaftsgruppe, die sich am 13. Dezember in Arbon TG konstituiert hat. Initiator ist der Thurgauer Unia-Sekretär Ireneusz Hołdowański (43). Er sagt:

Die polnische Community gehört heute zu den am stärksten wachsenden Gruppen in unserer Region. Ihre Zahl hat sich in den letzten Jahren vervierfacht.

COMMUNITY: Unia-Sekretär Ireneusz Hołdowański an einem Treffen mit polnischen Mitgliedern, inklusive Daria Okoń (l.), der Vize-Präsidentin der neuen, polnischen Unia-Gruppe. (Foto: zvg)

Was der bescheidene Hołdowański nicht sagt: Diese Entwicklung hat wesentlich mit ihm selbst zu tun. Denn der Industriegewerkschafter ist selbst Pole und hat seit seinem Stellenantritt 2023 schon etlichen Landsleuten aus der Patsche geholfen. Das hat sich herumgesprochen, wie die Zahlen eindrücklich belegen: Die Unia-Region Ostschweiz-Graubünden – gemessen am Mitgliederbestand eine Kleinregion – steht heute bei den Polinnen und Polen fast zuoberst an der Spitze: Über 300 der 1400 polnischen Unia-Mitglieder kommen aus der Ostschweiz.

Zehnmal mehr Polen als 2004

Nur die Grossregion Aargau-Nordwestschweiz hat knapp noch mehr Polinnen und Polen in ihren Reihen. Doch Hołdowański relativiert: «Die Ostschweiz liegt schlicht auch ein paar Fahrstunden näher an Polen als etwa Bern.» Das spiele bei vielen Arbeiterinnen und Arbeitern durchaus eine Rolle, da sie ihre Familien in der Heimat so oft wie möglich besuchten. Aber vor allem sei die Wirtschaftsstruktur massgebend: «Im Thurgau gibt es Obst- und Gemüsebauern, die bis zu fünfzig Polinnen und Polen beschäftigen», weiss Hołdowański.

Die Statistik gibt ihm recht. Die polnische Community in der Schweiz hat sich seit Polens EU-Beitritt 2004 fast verzehnfacht. Heute sind die Polinnen und Polen mit knapp 49'000 Personen die zwölftgrösste der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung. Im Apfelkanton Thurgau sind sie sogar die fünftgrösste Ausländergruppe – und nach den Deutschen die am stärksten wachsende. Doch den Neuzuzügerinnen und -zuzügern schlägt ein harter Wind entgegen.

Bauer bezahlte Dumpinglöhne

Gewerkschafter Hołdowański sagt: «Viele meiner Landsleute leisten in der Schweiz unabdingbare Arbeit im Bauhauptgewerbe, im Gewerbe, in der Industrie, der Landwirtschaft sowie im Dienstleistungssektor – aber oft unter Bedingungen, die von Ausbeutung geprägt sind.» Tieflöhne, unsichere Beschäftigung, Einsätze über Temporärfirmen und teils miserable Arbeiterunterkünfte gehörten für viele zum Alltag. Hinzu komme Missbrauch durch die Arbeitgeber. Hołdowański gibt ein Beispiel:

Ein Mitglied von uns wurde als Landarbeiter zu 14 Franken pro Stunde angestellt. Nach einer Weile stieg er zum LKW-Fahrer auf und lieferte für den Bauern Gemüse an Aldi aus. Doch sein Lohn blieb bei lausigen 14 Franken!

Aber auch in anderen Branchen sei Betrug verbreitet: «Oft zahlen Chefs den letzten Lohn nicht aus. Sie denken: ‹Ach, der Pole, der fährt ja eh bald wieder heim, bei dem kann ich sparen.›» Doch genau dieser Denkweise haben die «Polacy w Unia» jetzt den Kampf angesagt.

In Gedenken an Solidarność

Oberstes Ziel der Gruppe sei es, die harschen Realitäten sichtbar zu machen und die polnische Migration innerhalb der Unia stärker zu vernetzen und politisch zu organisieren, so Hołdowański. Gerade in der jüngeren Generation wüssten viele gar nicht, was eine Gewerkschaft sei. «Viele glauben, wir seien eine Versicherung», sagt Hołdowański. Bei den älteren Semestern sei das anders. Sie haben schliesslich noch die legendäre Solidarność erlebt: 1980 aus einer landesweiten Streikbewegung entstanden, mauserte sich die Gewerkschaft zur erfolgreichsten unabhängigen Arbeiterorganisation des gesamten Ostblocks. 1989 trug sie massgeblich zum Sturz des stalinistischen Regimes bei.

Heute allerdings ist ihre Bedeutung massiv geschwunden, auch wegen zeitweiliger Verstrickungen in die konservative Parteipolitik. Dennoch bleibt die historische Solidarność auch für die «Polacy w Unia» eine wichtige Referenz. So legten sie ihre Gründungskonferenz bewusst auf den 13. Dezember. Denn am 13. Dezember 1981 verhängte General Wojciech Jaruzelski das Kriegsrecht über Polen und begann seine Jagd auf die Solidarność. Die Unia-Versammlung in Arbon erinnerte mit einer Gedenkminute an die damals verfolgten, inhaftierten und getöteten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter. 

DÜSTERES KAPITEL: General Wojciech Jaruzelski veranstaltete eine Hetzjagd auf die Gewerkschaft Solidarność. (Foto: Screenshot)

Starke Wachstumsziele

Im Anschluss wählte die neue Unia-Gruppe ihre Leitung. Zum Präsidenten wurde Krzysztof Boś (53) aus Küssnacht SZ gewählt. Er ist Versicherungsberater und betreibt nebenbei den polnisch-schweizerischen Onlinesender TVR. Zu work sagt er: «Mein Ziel ist es, mindestens vier grosse Treffen pro Jahr zu veranstalten – nicht nur für polnische, sondern für alle interessierten Personen.» Insbesondere die Jugend will Boś für die Gewerkschaft begeistern. Froh ist er deshalb um das Know-how von Social-Media-Managerin Daria Okoń (28) aus Menziken AG und Marketingspezialistin Martyna Pawlak (35) aus Horgen ZH, den beiden Vizepräsidentinnen.

Ebenfalls in den Vorstand gewählt wurden Krzysztof Mróz, Fabrikarbeiter aus dem Kanton Glarus, sowie Marcin Kosiński, ehemaliger Gewerkschafter und Kohlearbeiter, der heute in St. Gallen als Kernbohrer arbeitet. Und was ist die erste Amtshandlung des Vereins? «Wir wollen wachsen», sagt Vizepräsidentin Okoń. Und sie verrät:

Die Gründungsversammlung hat beschlossen, dass jedes Mitglied noch bis Ende Jahr ein Neumitglied werben soll.

Also verdoppeln innert zweier Wochen – hoppla!

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