Unia-Präsidentin Vania Alleva über den Unia-Kongress:
«Wir geben uns einen Kompass für die Zukunft der Arbeit»

Was macht die Unia gut? Wo hat sie Nachholbedarf? Und wie kann der Kongress da mitwirken? Präsidentin Vania Alleva im Interview. 

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VANIA ALLEVA: «Das schwierige Umfeld muss uns anspornen, unser Engagement für Solidarität, Gerechtigkeit und demokratische Teilhabe zu verstärken.» (Foto: Gaetan Bally)

work: Vania Alleva, der letzte Kongress fand wegen der Coronapandemie dezentral und digital vernetzt statt. Worauf freuen Sie sich besonders bei diesem wieder ganz und gar analogen Kongress? 
Vania Alleva: Auf die 400 Delegierten aus der ganzen Schweiz aus vielfältigen Berufen, auf ihre Erfahrungen und auf unsere lebhafte Diskussionskultur. Der Kongress steht für unseren demokratischen Prozess, er zeigt, wie stark unsere Organisation ist, wie wichtig Vielfalt ist und wie wir gemeinsam zu einer grossen Kraft werden. Das alles vor Ort zusammen zu erleben, darauf freue ich mich sehr.

Dieses Jahr ist es ein Jubiläumskongress. Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf die letzten 20 Unia-Jahre? 
Mit Stolz! Dieses Jubiläum gibt uns die Gelegenheit, Bilanz über die ersten 20 Jahre der Unia zu ziehen: Es ist eine Erfolgsgeschichte. Denn wir sind eine soziale Kraft, die den Arbeitnehmenden eine Stimme gibt. Und eine zentrale Säule im Schweizer Modell der Arbeitsmarktregulierung mit Verträgen, Mindestlöhnen und Lohnschutz. Die Unia handelt die Arbeitsbedingungen für über eine Million Menschen in der Schweiz aus. Und kann konkrete Verbesserungen für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durchsetzen. Wir sind jedoch weder blind noch naiv: Angesichts der realen Probleme der Menschen können wir uns nicht mit dem Erreichten zufriedengeben. Wir wissen, dass es Potential für Verbesserungen gibt. Wir müssen in allen Branchen Kräfteverhältnisse erreichen, die es uns ermöglichen, mit den Arbeitgebern auf Augenhöhe zu verhandeln. 

Was die Mitgliederzahlen anbelangt, fällt die Bilanz der letzten vier Jahre weniger positiv aus. Was sind die Gründe für die Schwierigkeiten bei der Mitgliederwerbung, und wie kann eine Trendwende gelingen?
Die Entwicklung der Mitgliederzahlen bleibt eine zentrale Herausforderung. Die Unia wächst in den Berufen des Dienstleistungssektors, was sich auch in einem höheren Frauenanteil widerspiegelt. Auch in einigen Regionen ist die Entwicklung der Mitgliederzahlen positiv. Das bestätigt, dass es möglich ist, den Trend umzukehren. Wir müssen aus den positiven Erfahrungen lernen und haben deshalb mehr Ressourcen in die Regionen verlagert. Aber es gibt auch strukturelle Gründe, die die gewerkschaftliche Organisation erschweren.

Welche?
Der Rückgang der Arbeitsplätze in Branchen oder Berufsfeldern, in denen wir viele Mitglieder hatten wie in einigen Industriezweigen. Aber auch die Mobilität der Arbeitnehmenden und eine zunehmend individualistische Gesellschaft. Darauf gibt es eine Antwort. Und zwar die Präsenz in den Betrieben: Das zeigt die Erfahrung in den Regionen, in denen die Entwicklung positiv ist. 

Das Motto des Kongresses ist: «Gemeinsam für soziale Gerechtigkeit». Wie begegnet die Unia der zunehmenden sozialen Ungleichheit in der Schweiz und weltweit? 
Der Vormarsch der Rechten und Rechtsextremen in den Vereinigten Staaten und in der Europäischen Union, aber auch in der Schweiz ist sehr besorgniserregend. Überall, wo sie an der Macht sind, erleben wir Angriffe auf Grundrechte, Arbeitsrechte, Frauenrechte und Minderheitenrechte. Das macht Angst. Aber Angst und Resignation sind hier fehl am Platz. Das schwierige Umfeld muss uns vielmehr dazu anspornen, unser Engagement für Solidarität, Gerechtigkeit und demokratische Teilhabe zu verstärken. 

Wie wirkt sich die Ungleichheit konkret aus?
Die Reichen werden immer reicher. Wir sehen uns mit einer unverhältnismässigen Konzentration des Reichtums konfrontiert: Ein Prozent der Bevölkerung besitzt fast die Hälfte der Vermögen. Zudem geht die Lohnschere immer weiter auf. Und der Kaufkraftverlust trifft voll die unteren und mittleren Schichten.

Der Kongress wird auch die Entwicklung für die nächsten 20 Jahre skizzieren. Warum so weit in die Zukunft blicken?
Weil es angesichts der grossen und radikalen Veränderungen in der Arbeitswelt wichtig ist, die Zukunft aktiv zu gestalten. Wir müssen uns fragen, wie wir 2045 leben und arbeiten wollen. Deshalb werden wir am Kongress über die Zukunft der Arbeit diskutieren, über strukturelle Veränderungen in der Wirtschaft, die Alterung der Bevölkerung, künstliche Intelligenz und Digitalisierung, aber auch über Entwicklungen in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Migration, Gleichstellung oder über die Klimakrise. Mit «Perspektiven 2045» wollen wir uns einen Kompass für eine gerechte und solidarische Welt geben, um uns nicht spalten zu lassen und die Mitbestimmung zu stärken.

Eine Priorität ist die Stärkung der Langzeitpflege. Warum dieser Bereich? Und auf welche Weise soll er gestärkt werden? 
Es handelt sich um einen Bereich, in dem zunehmend mehr Beschäftigte arbeiten und der im Kontext der alternden Bevölkerung auch sozial immer wichtiger wird. In dieser Branche arbeiten Fachkräfte, die Tag für Tag unsere Gesellschaft am Laufen halten, ohne jedoch die gebührende Anerkennung in Bezug auf Arbeitsbedingungen und Löhne zu erhalten. Die Zustände in der Pflege veranlassen jeden Monat Hunderte von Arbeitnehmenden, den Beruf zu wechseln. Deshalb wollen wir mit anderen Gewerkschaften und Akteuren der Zivilgesellschaft zusammenarbeiten. Ein gemeinsamer Ansatz ist von grundlegender Bedeutung. Dies gilt übrigens auch für andere Bereiche: Man denke nur an die Sonntagsallianz zur Verteidigung des Rechts auf Sonntagsruhe im Detailhandel. 

Wird der Kaufkraftverlust grosser Teile der Bevölkerung von den Arbeitgebern ausreichend verstanden? 
Leider gar nicht. Während früher bei Lohnverhandlungen mit den Arbeitgebern der Teuerungsausgleich praktisch unbestritten war und über tatsächliche Erhöhungen verhandelt wurde, ist heute schon bereits für die Durchsetzung des Teuerungsausgleichs für alle ein enormer Druck von uns Gewerkschaften nötig. Zentral bleibt unsere Forderung nach generellen Lohnerhöhungen, da individuelle Lohnerhöhungen nur zu einer Erhöhung der höchsten Löhne und zu einer Stagnation der mittleren und niedrigen Löhne führen. Das zeigen die Erfahrungen der letzten zehn Jahre. 

Und was tut die Politik?
Angesichts des Kaufkraftverlustes bleibt die Politik untätig: Die rechte Mehrheit im Parlament unternimmt nichts, um die Erhöhungen der Krankenkassenprämien oder der Mieten zu begrenzen, die Familien und Arbeitnehmende stark belasten.

Der letzte Kongress der Unia hat beschlossen, eine Initiative zum besseren Kündigungsschutz von Gewerkschaftern und Gewerkschafterinnen zu lancieren. Wie ist der Stand der Dinge?
Im Rahmen der neuen Vereinbarungen mit der Europäischen Union haben sich die Sozialpartner auf 14 Ausgleichsmassnahmen in der Schweiz geeinigt. Eine davon sieht die Verbesserung des Kündigungsschutzes vor für Delegierte von Personalkommissionen, für Arbeitnehmervertreter in Pensionskassen, aber auch für Gewerkschaftsdelegierte in nationalen Branchenvorständen. Wir erwarten, dass das Parlament hier vorwärtsmacht und alle Ausgleichsmassnahmen übernimmt. Parallel dazu werden wir im Schweize-rischen Gewerkschaftsbund weiter an einem Initiativtext arbeiten, etwa um den Kündigungsschutz umfassender zu verbessern, auch für ältere Arbeitnehmer oder schwangere Frauen.

Und zum Schluss: Wo steht die Unia beim nächsten Kongress 2029? 
Wir sind noch stärker in den Betrieben und Branchen verankert. Als progressive, soziale Kraft haben wir unsere Mobilisierungsfähigkeit zur Durchsetzung der Interessen der Arbeitnehmenden verstärkt und verbessern die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen.

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