Das persönliche Buch von Tahsim Durgun
«Mama, bitte lern Deutsch»

Mit seinem ersten Buch trifft Autor und Tiktok-Sternchen Tahsim Durgun den Nerv aller Kinder mit Migrationsgeschichte. Im Zentrum steht die ständige Übersetzungsarbeit für seine Mutter.

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PERSÖNLICH UND HUMORVOLL: Tahsim Durgun. (Foto: Nils Reuter / WDR)

Seiner Mama die Wochenaktionen aus dem Aldi-Katalog übersetzen? Oder gleich die komplizierten Briefe von der Ausländerbehörde mit der Abschiebedrohung? Was Durgun in seinem ersten Buch beschreibt, kennt fast jedes Kind, dessen Eltern der deutschen Sprachen weniger mächtig sind. In seinem Buch «Mama, bitte lern Deutsch» zeigt der Autor auf eine sehr persönliche und dennoch humorvolle Art auf, wie es sich anfühlt, in einem Land unerwünscht zu sein, das sich aber wie Heimat anfühlt. So verrät der Autor schon im Untertitel, worum es hier eigentlich geht: «Unser Eingliederungsversuch in eine geschlossene Gesellschaft».
 
Durgun erzählt seine Familiengeschichte mit der Flucht aus der Türkei, vom Leben in der viel zu kleinen Wohnung im Plattenbau und von den Alltagskämpfen mit humoristischen Kleinigkeiten. Er teilt Einblicke in eine normale «Ausländerfamilie», die verdutzen oder sogar komisch wirken können. Zum Beispiel das Phänomen des Blutdruckmessgerätes: Wird dieses am Familientisch ausgepackt, herrscht andächtige Stille, und allen wird ganz ernst der Blutdruck gemessen. Er schreibt: «Blutdruckmessgeräte sind unser Äquivalent zu familiären Monopoly-Abenden.» Ein Ritual, das in weiten Teilen Ost- und Südeuropas gepflegt wird. Solche witzigen Details erfrischen das Buch, in dem sonst bittere Momente und die Beschreibung des ständigen Gefühls, unerwünscht zu sein, die Geschichte dominieren.

Der Ausschaffungsversuch

Als Kind hat Durgun mehrere Male mit der Ausländerbehörde zu tun. Mit vierzehn wird er von seiner Mutter zu Rate gezogen: Er beschreibt, wie sie vor einem Berg von Briefen sass. Sie konnte kein Deutsch lesen, hatte sich aber mit den Jahren die Fähigkeit angeeignet, anhand von Formatierung und Unterschrift die Wichtigkeit der Briefe abzuwägen. Dieses Mal war es sehr ernst: ihm und seinen drei Geschwistern drohte die Abschiebung in ihre Heimat. Oder besser gesagt in ein Land, das sie nicht kannten und nie besucht hatten. Er studierte die Briefe, sammelte alle nötigen Unterlagen zusammen und begleitete seine Mutter zu der Behörde. Ihm wurde eine Verantwortung übertragen, die ein vierzehnjähriger Junge nicht haben sollte. Auch seiner Mutter war diese Situation nicht recht: «Ich bin immer sauer, wenn wir uns in ihre Behörden begeben müssen, wo ich mich wie ein demütiges, kleines Kind benehmen muss – vor einer Frau, die so alt ist wie ich. Vor einer Frau, die ich sein könnte, wenn ich woanders geboren wäre.»
 
Der Autor offenbart in seinem Buch den ewigen (Überlebens-)Kampf. Seit er lesen und schreiben kann, hat er Stellungnahmen verfasst und übersetzt. Die Lage seiner Familie erklärt und Unterlagen zusammengesucht. «Aber vor allem habe ich Angst gehabt», schreibt er weiter. Denn seit seiner frühsten Kindheit wurde ihm und seinen Geschwistern gedroht, dass sie Deutschland verlassen müssten. «Das hat uns innerlich verwundet – für immer», stellt er fest. Solche Situationen führten dazu, dass er sich bereits im Kindesalter ein lupenreines Beamtendeutsch aneignete. Aus dem einfachen Grund, den Menschen in den Behörden sprachlich die Stirn bieten zu können. 

@tahdur

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♬ Originalton - tahsim bro

Dass seine Mutter kein Deutsch kann, macht Durgun wütend, irgendwann müde. Gezögert hat er aber nie, ihr beim Übersetzen zu helfen. Und klärt die Leserschaft auf, wie es sein kann, dass seine Mutter die Sprache nicht beherrscht, obschon sie schon über dreissig Jahre in Deutschland lebt.

Zum Lachen (und zum Weinen)

Das Buch von Durgun verspricht jenen Lesenden, die selbst eine Migrationsgeschichte haben, viel Kopfnicken und sentimentale Erinnerungen zurück in die eigene Kindheit. Für alle anderen ist das Buch ein simpler Zugang in die Welt der Familien mit Migrationserfahrung. Eine Welt, die versteckt bleibt, aber für einen grossen Teil unserer Gesellschaft Realität ist. Das Buch «Mama, bitte lern Deutsch» bringt die Lesenden garantiert zum Lachen. Und einige vielleicht sogar zum Weinen.

@tahdur

Vielen ist meine Mutter als die lustige Frau aus den Kurzvideos bekannt, in denen sie mit einer Unbekümmertheit und leichten Naivität auf verschiedenste Dinge reagiert. Viele Menschen haben sie seitdem ins Herz geschlossen. Wir sind sehr dankbar für all den Zuspruch, doch diese kurzen Ausschnitte reichen nie und nimmer aus, um die Komplexität meiner Mutter aufzuzeigen – einer Frau mit einer vielschichtigen Lebensgeschichte, die mehr gesehen und erlebt hat als die meisten von uns. Es wird Zeit, dass Menschen wie meine Mutter Gehör und Anerkennung finden. Frauen wie sie haben dieses Land bereichert – und sehen den deutschen Pass fast 30 Jahre später immer noch als eine unerreichbare Sphäre. Dieses Buch ist für euch alle. Lernt meine Mutter richtig kennen. Und vor allem: Geht am 23.02. menschlich wählen, damit am Ende „endlich alles gut ist“.

♬ Originalton - tahsim bro

Ein gewöhnlicher Oldenburger Junge

Tahsim Durgun ist 1995 im deutschen Oldenburg geboren. Er ist das zweitälteste Kind von vier Geschwistern. Seine Eltern ergriffen noch vor seiner Geburt die Flucht aus der Türkei. Als jesidische Kurden gehörten sie zu einer Minderheit und wurden verfolgt. Heute leben Jesiden im Irak, in Syrien und in der Türkei. Deutschland gehört zur grössten Diaspora der Bevölkerungsgruppe. Durgun konnte seine Heimat als Kind nie besuchen. Doch seine Familie pflegte die kurdische Kultur in ihrer kleinen Wohnung in einem Plattenbau bei Oldenburg weiter. So schreibt er viel vom kurdischen Essen, von der Sprache und dem Sinn für Familienzusammenhalt. Nach dem Abitur studierte Durgun Germanistik und Geschichte. Bekannt wurde er während der Corona-Pandemie, als er ironische Videos über das deutsche Bildungssystem, strukturellen Rassismus und über das Ausländersein veröffentlichte. Heute ist er eine bekannte Grösse in der Szene, landete mit seinem ersten Buch einen Bestseller und moderiert seine eigene Talkshow bei Funk. Am 2. November findet im Zürcher Volkshaus eine Lesung mit Tahsim Durgun statt, letzte Tickets gibt es unter diesem Link.


 

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