Marc Chesney über die Tech-Oligarchen und den «grünen Kapitalismus»
Dieser Professor rechnet mit unserem Wirtschaftssystem ab

Während Jahrzehnten war Marc Chesney Professor für ­Finanzmathematik. Und hat die Geduld mit dem Kapitalismus endgültig ­verloren. Sein aktuelles Buch ist eine faktenstarke Abrechnung mit den herrschenden Zuständen und ein wortmächtiges Manifest für ein radikal anderes Wirtschaftssystem.

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ER WEISS, WOVON ER SCHREIBT: Ökonom Marc Chesney rechnet mit den Mächtigen ab. (Foto: Keystone)

Am 24. Dezember 2021 veröffentlichte Netflix pünktlich zu den Festtagen «Don’t Look Up». Die rabenschwarze Komödie ist mit Hollywood-Grössen wie Leonardo DiCaprio, Meryl Streep und Cate Blanchett erstklassig besetzt. Sie erzählt von einer ­Astronomie-Doktorandin und ihrem Professor, die ­einen Kometen auf Kollisionskurs mit der Erde entdecken. Statt die drohende Katastrophe ernst zu nehmen, zögert die US-Präsidentin aus wahltak­tischen Gründen, während Medien und Öffent­lichkeit zwischen Hysterie, Verdrängung und ­Verschwörungstheorien schwanken. Ein Tech-Milliardär wittert im Kometen ein Geschäft und torpediert Rettungsmis­sionen. Am Ende scheitern alle Versuche, die Katastrophe abzuwenden: Der Komet zerstört die Erde, während eine kleine Elite im Raumschiff entkommt – nur um in einer grotesken Pointe von fremden Kreaturen ausgelöscht zu werden.

Im Sommer 2022 beginnt der Ökonom Marc Chesney mit den Arbeiten zu seinem eben erschienenen Buch «Stopp! Gegen Kasino-Finanzwirtschaft und die Vermarktung der Natur». Er ist noch bis 2024 Professor für Finanzmathematik an der Universität Zürich. Er wird es bei seinem Rücktritt 21 Jahre gewesen sein. Kurz: Chesney weiss, wovon er schreibt.

Vom Kino ins Kasino

Chesney sieht in «Don’t Look Up» ein Gleichnis für unsere Gegenwart. Klimakrise, Kriege, Artensterben – und die Mächtigen? Beruhigende Neujahrsansprachen, Realitätsverweigerung, weiter so. «Schuldhaft und kriminell», nennt er das.

Das globale Finanzsystem ist ein giftiges ­Kasino. Banken setzen Wetten in Billionenhöhe ab, Risiken werden sozialisiert, Gewinne privatisiert. Die Subprime-Krise 2008, die Implosion der Credit Suisse 2023 – alles keine Zufälle, sondern Systemlogik. Chesneys Diagnose ist eindeutig: Dieses System ist nicht entgleist, es funktioniert genau so, wie es für eine kleine, exklusive Kaste funktionieren soll.

Besonders bitter wird Chesney, wenn er über seine eigene Zunft schreibt. Wirtschaftsuniversitäten sind längst keine Orte der Aufklärung mehr, sondern «Kaderschmieden einer gescheiterten Ideologie». Gekaufte Professoren legitimieren das Kasino – mit pseudowissenschaftlichen Theorien über «effiziente Märkte» oder «grünes Wachstum». «White-Collar-Söldner», die sechsstellige Honorare von Tech-Konzernen und Banken kassieren, um deren Geschäftsmodelle zu preisen.

Vegetarische Schlachthöfe

Ein eigenes Kapitel widmet Chesney dem «grünen Kapitalismus». Emissionsrechte, Biodiversitätszertifikate, «nachhaltige» Fonds – sind für ihn alles nur «zynischer Ausverkauf». Wer Biodiversität verknappt, um sie an der Börse handelbar zu machen, handle «mit Leben und Tod». Nachhaltige Finanzwirtschaft sei ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich selbst. Wer von «grünem Kapitalismus» träumt, glaubt auch an vegetarische Schlachthöfe. Während sich Konzerne als Nachhaltigkeitsapostel und Retter inszenieren, geht die Zerstörung ungebremst weiter: legal, zertifiziert, extrem profitabel.

Die Tech-Oligarchen

Im letzten Drittel kümmert sich Chesney um die Tech-Oligarchen: Elon Musk, Jeff Bezos, Mark ­Zuckerberg. Für ihn sind sie keine Visionäre, sondern Feudalherren einer digitalen Leibeigenschaft. Mit Monopolstellungen, Subventionen und willfährigen Politikerinnen und Politikern haben sie in wenigen Jahren gigantische Vermögen angehäuft. Jeff Bezos verdiente am 20. Juli 2020 mit 13 Milliarden US-Dollar doppelt so viel, wie der gesamte afrikanische Kontinent an einem Tag erarbeitet. Chesney bezeichnet die markradikale Ideologie als «libertären Extremismus»: ein Krieg aller gegen alle, bei dem die Mehrheit enteignet wird, während sich eine kleine Kaste in Privatjets und Bunkern verschanzt (siehe auch den work-Beitrag).

Aufruf zu Aufstand

Chesney schreibt mit heissem Herzen und kalter Wut. Nicht alles ist neu, doch die Aufzählung macht Chesneys Fazit absolut nachvollziehbar: Das System lässt sich nicht reformieren. Es muss «entmachtet, delegitimiert und überwunden werden». Seit work-Kolumnist Jean Ziegler hat das kein Schweizer Professor so deutlich formuliert.

Marc Chesney: Stopp. Gegen Kasino-Finanzwirtschaft und die Vermarktung der Natur. Westend Verlag, 2025. 208 Seiten, ca. Fr. 28.–.

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