Rassismus-Skandal bei der Lausanner Polizei: Expertin ordnet ein
«Es muss ein radikaler Kulturwandel innerhalb der Polizei stattfinden»

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In Chat-Gruppen ­tauschten Lausanner ­Polizisten ­rassistische Inhalte aus. Nora Riss ist ­Leiterin ­Beratungs­netz für Rassismus­­opfer bei ­humanrights.ch. Die ­Vorfälle haben sie nicht überrascht, leider.

GEGEN POLIZEIGEWALT: Menschen gehen in Lausanne auf die Strasse, nachdem Michael Kenechukwu Ekemezie im Mai dieses Jahres zuerst brutal verhaftet worden und anschliessend auf dem Posten der Stadtpolizei verstorben war. (Foto: Keystone)

Ende August gab die Stadt Lausanne bekannt: Rund 50 Mitglieder der Lausanner Polizei waren in Whatsapp-Gruppen mit rassistischen, antisemitischen, sexistischen und diskriminierenden Inhalten. Acht Beamte wurden suspendiert. Diese Whatsapp-Gruppen wurden entdeckt, weil es Ermittlungen im Fall eines ehemaligen Stadtpolizisten gab, der mit erhobenem Daumen neben einem Graffito posierte, das Mike Ben Peter gewidmet war, einem Nigerianer, der bei einer Festnahme wegen Drogenhandels ums Leben gekommen war. Nora Riss ist Leiterin Beratungsnetz für Rassismusopfer von humanrights.ch. Im Interview ordnet sie die schockierenden Whatsapp-Gruppen als strukturellen Rassismus ein.

work: Was halten Sie von den ­Enthüllungen über rassistische und diskriminierende Äusserungen bei der Lausanner Polizei?
Nora Riss: Es ist schockierend und völlig inakzeptabel. Aber wir wussten seit mehreren Jahren von Problemen innerhalb der Ordnungskräfte des Kantons. Die Waadtländer Polizei verzeichnet die höchste Zahl an Todesfällen nach Festnahmen in der Schweiz. Auch wenn wir keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen diesen Todesfällen und rassistischen Einstellungen herstellen können, haben wir das Recht, Fragen zu stellen. Und wir fordern unabhängige Untersuchungen. Bei polizeilicher Gewalt ist eine unparteiische Untersuchung erforderlich, beispielsweise durch einen Staatsanwalt aus einem anderen Kanton. Man kann sich nämlich fragen, ob die Staatsanwaltschaft befugt ist, unabhängig gegen Polizisten ihres eigenen Kantons zu ermitteln – wie es in diesem Fall geschehen ist – und dann Anklage zu erheben. Tatsächlich arbeiten diese beiden Institutionen eng zusammen und sind voneinander abhängig. Eines ist sicher: Es muss ein radikaler Kulturwandel innerhalb der Lausanner Polizei stattfinden.

RASSISMUSEXPERTIN: Nora Riss. (Foto: PD)

Wie lassen sich diese Auswüchse erklären?
Wir verfügen über keine Daten zu Racial Profiling und Polizeigewalt. Es ist schwierig, ihr Ausmass zu ermitteln. Aber jeden Tag werden Menschen mit dunkler Hautfarbe im Zug, auf der Strasse angehalten und kontrolliert …

Aus Korpsgeist will oder wagt es niemand, diese Auswüchse anzuprangern. Wir sind mit einem strukturellen Rassismus konfrontiert, bei dem die Verbindung zwischen Kriminalität, Gefährlichkeit und schwarzen Menschen ganz selbstverständlich hergestellt wird. Aus diesem Schema müssen wir unbedingt ausbrechen.

Welche Massnahmen sollten ergriffen werden?
Es ist unerlässlich, unabhängige und gründliche Untersuchungen durchzuführen und Polizisten mit problematischem Verhalten vom Dienst zu suspendieren. Das Tragen von Bodycams (Minikameras) gehört ebenfalls zu den guten Ideen. Sie wurden bereits getestet und tragen zu einer Verringerung der Spannungen bei. Es braucht auch unabhängige Stellen, denen diskriminierende Fälle gemeldet werden können, und die Opfer müssen von Anwälten unterstützt werden. Eine weitere Möglichkeit wäre, wie vom Waadtländer Parlament vorgeschlagen, den kontrollierten Personen eine Quittung mit Angabe des Grundes für die Kontrolle auszustellen.

Sind die Massnahmen gegen Diskriminierung und die Prävention in der Schweiz ausreichend?
Eindeutig nein. Es fehlen die Mittel. Und es bräuchte ein allgemeines Gesetz, das vor allen Formen der Diskriminierung schützt und alle Bereiche abdeckt. Am Arbeitsplatz, bei der Wohnungsvergabe usw. Auch die Medien und die Politik spielen eine wichtige Rolle bei der Banalisierung des Rassismus, insbesondere mit übermässig vielen Artikeln über ausländische Kriminelle und einer SVP, die ständig Ausländer und Kriminalität in einen Topf wirft. Eine vereinfachende Methode, um Stimmen zu gewinnen, die leider immer noch funktioniert.

Was die Prävention angeht, müsste man bereits in der Schule mit der Einführung von Pflichtunterricht zum Thema Rassismus ansetzen. Bildung kann als Motor für sozialen Wandel wirken. Umso mehr, als man gerne über den Rassismus anderer spricht, über Nazis, über die ex­treme Rechte… obwohl wir alle in einer rassistischen Struktur sozialisiert sind.

Sind wir also alle in einem gewissen Mass rassistisch?
Ja. Selbst Menschen, die sich selbst als nicht rassistisch bezeichnen. Eine Reaktion, die meist mit Angst zusammenhängt. Das passiert mir auch manchmal. Wir müssen bestimmte Verhaltensweisen ablegen. Das ist eine tägliche Aufgabe, die alle leisten müssen, um Vorurteile ab­zubauen und aus Denkmustern auszu­brechen.

*Dieser Text ist zuerst in der französisch­sprachigen Unia-Zeitung «L’Evénement syndical» erschienen. work bringt ihn in verkürzter Form.

Jede sechste Person: Rassismus in Zahlen


Im vergangenen Jahr gaben 17 Prozent der Wohnbevölkerung der Schweiz an, in den letzten fünf Jahren Opfer rassistischer Diskriminierung geworden zu sein. Das sind 1,2 Millionen Menschen zwischen 15 und 88 Jahren, also jede sechste Person.

Im Jahr 2024 haben die Beratungsstellen für Opfer von Rassismus 1211 Fälle ­erfasst und analysiert, das sind 335 mehr als im Vorjahr. Diese Zahl entspricht einem Anstieg von fast 40 Prozent. Die meisten Vorfälle ereigneten sich im ­Bildungsbereich, am Arbeitsplatz und im öffentlichen Raum. 


Polizei-RassismusAlles ­lauter Einzelfälle

Im vergangenen Jahr wurden offiziell 116 rassistische Diskriminierungen durch «Ordnungskräfte» gemeldet, 76 davon durch Polizeibeamtinnen und -beamte. Rund 60 Fälle betrafen Racial Profiling. Also die schikanierende Kontrolle nichtweisser Menschen durch ­Polizeikräfte einzig aufgrund der Hautfarbe. Das steht im Bericht der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus. Erfasst sind hier nur Fälle, deren Opfer sich auf einer von 20 Be­ratungsstellen meldeten. Weil dies bereits ein grosser Schritt ist, liegt die tatsächliche Zahl wesentlich höher.

Gerade gegen ­rassistische und übergriffige Polizisten trauen sich ­Opfer kaum vorzu­gehen. Denn der Korpsgeist sucht verlässlich und ­regelmässig für Freisprüche, wenn es denn überhaupt zu Ermittlungen und Verhandlungen kommt.

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Und wenn es dann gar nicht mehr anders geht, sind die politischen Verantwortlichen gerne mit Ausreden «Einzelfall» und «Ausrutscher» zur Hand. Aktuell im Kanton Aargau: Hier schrieb der Chef ­einer Regionalpolizei an seine Untergebenen: «Het de Burscht en Schade!! Aber überrascht mech ned, esch en N****!!» Dessen «Vergehen»: Der Mann hatte seine Verfahrensrechte wahrgenommen. Dieser Einblick in die Kommunikation geriet an die Öffentlichkeit, weil der Chefpolizist sein Mail auch gleich an den Beschimpften schickte. Der liess sich in der Folge nicht einschüchtern und erstattete Anzeige. Unterdessen wurde der Polizist zu einer bedingten Geldbusse von 10 Tagessätzen ­verurteilt. (Clemens Studer)


Waadtländer Polizei: Todesfälle bei Festnahmen

Seit 2016 sind fünf Menschen afrikanischer Herkunft bei Polizeieinsätzen gestorben:

GROSSE ANTEILNAHME: Menschen versammeln sich am 30.  August in Lausanne, um des verstorbenen Marvin zu gedenken. (Foto: Keystone)

Hervé Bondembe Mandundu (27), kongolesischer Herkunft: Die Polizei hat ihn am 11. November 2016 in Bex bei einem Polizeieinsatz in seiner Wohnung erschossen.

Lamin Fatty (23) aus Gambia: Er starb am 24. Oktober 2017 in einer Zelle der Kantonspolizei Waadt an den Folgen eines epileptischen Anfalls. Die Polizei hatte den Asylbewerber aufgrund einer Verwechslung seiner Identität zu Unrecht festgenommen.

Mike Ben Peter (37) aus Nigeria: Bei einer Drogenrazzia am 28. Februar 2018 starb er durch eine gewaltsame Festnahme in Lausanne. Polizisten knieten minutenlang auf ihm in Bauchlage.

Roger Nzoy Wilhelm (37), Zürcher südafrikanischer Herkunft: Die Polizei hat ihn am 30. August 2021 am Bahnhof von Morges erschossen. Laut der Forschungs- und Ermittlungsagentur «Border Forensics» ist es «höchst unwahrscheinlich», dass der Verdächtige zum Zeitpunkt seines Todes ein Messer in der Hand hielt. Der Fall wurde wiederaufgenommen, da der Bericht die Notwehrbehauptung des Polizisten, der die Schüsse abgegeben hatte, in Frage stellt.

Michael Kenechukwu Ekemezie (39) aus Nigeria: Er starb am 25. Mai 2025 in den Räumlichkeiten der Stadtpolizei von Lausanne, nachdem die Polizei ihn wegen des Verdachts auf Drogenhandel festgenommen hatte.

Zu dieser traurigen Liste kommt noch der Tod zweier Minderjähriger hinzu: Es handelt sich um den 17jährigen Marvin, der beim Versuch, mit einem Motorroller vor der Polizei zu fliehen, tödlich gegen eine Mauer prallte. Dieses Drama ereignete sich am 23. August und führte zu zwei Nächten voller Ausschreitungen und Zusammenstösse mit der Polizei. Am 30. Juni kam auch die 14jährige Camila in Lausanne ums Leben, als sie von ihrem Motorroller stürzte. Auch sie versuchte, sich einer Kontrolle der Stadtpolizei zu entziehen.

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