Kein 996!
Ob Zoll-, Energie- oder Coronakrise: Wirtschaftsverbände und ihre Lobby spielen sich als Retter der Wirtschaft auf. Immer mit dem gleichen Reflex: mehr arbeiten (lassen), weniger Regulierung .

Die europäischen Gewerkschaften sind zurzeit die einzigen Wirtschaftsakteure, die wegen des «Revolverhelden» aus dem Wilden Westen nicht die Nerven verlieren. Während die Unternehmerverbände den Teufel an die Wand malen und als Abwehrzauber gegen Strafzölle ihre giftige Deregulierungs-Suppe aufwärmen (länger arbeiten, weniger Lohn, weniger Schutz und Sicherheit), orientieren sich die Gewerkschaften an den ökonomischen Realitäten. Und zwar sowohl in der EU als auch in der Schweiz.
In Brüssel wehrt sich der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) mit Händen und Füssen gegen die Unterwerfung unter die Trumpsche Willkürpolitik. EGB-Generalsekretärin Evelyn Lynch sagte diesen Sommer: «Wir fordern die EU auf, ihre wirtschaftliche und regulatorische Souveränität zurückzugewinnen. Europa darf sich nicht aus seinem Sozialmodell, seinen Standards, Werten und Rechten herausdrängen lassen.» Konkret bekämpfen die Gewerkschaften Abstriche bei den Mindestlöhnen, beim Green Deal oder bei den Feiertagen. Stattdessen sollen die Absatzmärkte diversifiziert und soll in die Binnenwirtschaft investiert werden. Nur so liesse sich die Abhängigkeit von der US-Nachfrage verringern – und damit die Erpressbarkeit. Die ökonomischen Analysen geben den Gewerkschaften recht. Das renommierte Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat berechnet, dass ein pauschaler Zollsatz von 25 Prozent die EU-Exporte in die USA um die Hälfte reduzieren würde. Könnte die EU jedoch die Handelsbeziehungen mit Kanada, Mexiko oder Japan ausbauen, würde der negative Trend ins Positive kippen.
Mit «nur» 15 Prozent EU-Strafzöllen, wie sie im August vereinbart wurden, sieht die Lage sogar besser aus als befürchtet. Doch es ist Vorsicht geboten. Die EU hat Trump unter dem Druck des Ukrainekrieges enorme Zugeständnisse machen müssen, zum Beispiel bei Direktinvestitionen oder Gaseinkäufen in den USA. Doch selbst das ist dem Erpresser nicht genug. Kaum ist der Zollvertrag mit der EU unterschrieben, kommt schon der nächste Angriff. Diesmal will Trump den europäischen Schutz von digitalen Daten und Grundrechten schleifen. US-Techgiganten wie Google oder Amazon sollen in der EU ungehindert von Steuern und Antikartellgesetzen weiter abzocken dürfen. So langsam wird es selbst den konservativen Parteien in der EU zu viel. Es ist offensichtlich, dass man sich auf das Wort des US-Präsidenten niemals verlassen kann.
Diese neuste Entwicklung ist auch eine Warnung für die Schweiz. Sie steht mit 39 Prozent Strafzöllen viel schlechter da als die EU. Alle Bücklinge, alles EU-Bashing, alle Neutralitätsverklärungen haben nichts genützt. Es ist deshalb Zeit, sich auch hier den Tatsachen zu stellen. Die US-Strafzölle sind absurd und belasten kleine und mittlere Exportunternehmen. Doch mit Kurzarbeit und administrativer Optimierung («Tariff Engineering») kann Zeit gewonnen werden, um neue Lieferketten aufzubauen. SGB-Chefökonom Daniel Lampart zeigt zudem auf, dass die Exportindustrie vor allem unter dem überbewerteten Franken leidet. Ein Problem, das die Schweiz im Gegensatz zu den Trump-Zöllen eigenständig lösen kann. Das ist der Weg – und nicht immer neue Zugeständnisse an Donald Nimmersatt.
Regula Rytz schreibt hier im Turnus mit Roland Erne, was die europäische Politik bewegt.