Wer sie einmal hat, wird sie kaum mehr los
Was ist die häufigste Ursache für Schulden? Leichtsinn ist es nicht…

Ein Unfall, eine Trennung, der Verlust der Stelle: das sind die häufigsten Gründe, warum Menschen in die Schuldenfalle geraten. Die Folge ist meist ein lebenslanger sozialer Ausschluss. Doch jetzt könnte eine Gesetzesänderung Hoffnung bringen.

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DIE LAST DER SCHULDEN: Über die Jahre wird der Schuldenberg immer grösser. (Grafik: Schuldenberatung Schweiz / Montage: work)

Die Rettungssanitäterin Alexandra Odermatt erleidet 2019 bei einem Einsatz einen Bandscheibenvorfall. Sie kann nicht mehr arbeiten, und das Krankentaggeld von ihrem 70-Prozent-Job reicht nicht für sie und ihren Sohn. Nach sechs Monaten ist sie überschuldet, ihr Lohn wird gepfändet.

Vergeblich hat sie sämtliche Ämter und Stellen abgeklappert. In der Sendung «SRF Dok» sagt sie: «Es hätte einfach ein paar Monate Überbrückung gebraucht, damit ich nicht in die Situation gerate, in der ich jetzt stecke.»

Die Schulden bleiben

Nach mehreren Operationen bessern sich zwar ihre Schmerzen. Odermatt lässt sich zur Pflegefachfrau umschulen. Doch noch immer betragen ihre Schulden rund 40 000 Franken.

Die neusten Zahlen der Schuldenberatungsstellen zeigen: Wer sich verschuldet, tut das selten aus Leichtsinn oder weil er oder sie Geld für Luxus ausgibt. Vielmehr sind einschneidende Ereignisse die häufigsten Auslöser: Bei 34 Prozent der Betroffenen war es ein Unfall oder eine Krankheit, 31 Prozent gerieten nach einer Trennung in finanzielle Schieflage, 28 Prozent durch Arbeitslosigkeit. Insgesamt haben im letzten Jahr gut 6200 überschuldete Menschen bei einer Fachstelle Rat gesucht.

DIE GRÜNDE: In den meisten Fällen treibt ein Unfall die Menschen in die Schulden. (Grafik: Schuldenberatung Schweiz)

Tieflöhne als Risiko

Überdurchschnittlich viele waren zwischen 30 und 50 Jahre alt, also «im besten Erwerbs- und Familienalter», wie der Dachverband in seiner aktuellen Statistik schreibt. 64 Prozent hatten ein Haushaltseinkommen von weniger als 5000 Franken im Monat. Zwar hatten drei Viertel einen Job – aber viele mussten mit Sozialhilfe, Arbeitslosenversicherung oder Ergänzungsleistungen über die Runden kommen.

EINE FRAGE DES EINKOMMENS: Wer mit weniger als 5000 Franken im Monat auskommen muss, rutscht deutlich häufiger in die Schulden als Gutverdiener. (Grafik: Schuldenberatung Schweiz)

Wer Schulden hat, muss auf soziale Aktivitäten wie Ausflüge oder das Mitmachen in einem Verein verzichten. Derweil vergrössern Betreibungen und Inkassokosten die Schuldenlast. Viele Betroffene schaffen den Ausweg aus diesem Teufelskreis nicht. Auch nicht, wenn sich ihre Gesundheit oder ihre berufliche Situation wieder bessert. In ihrem Bericht nehmen die Schuldenberatungsstellen kein Blatt vor den Mund:

In der Schweiz bedeuten Schulden oft den sozialen Ausschluss auf Lebenszeit.

Doch es gibt einen Lichtblick: Der Nationalrat debattiert schon bald über eine Gesetzesänderung. Sie soll unter strengen Bedingungen eine Schuldensanierung ermöglichen (siehe Text unten).

Ein weiteres Mittel gegen Armut und Überschuldung sind gesetzliche Mindestlöhne. Caritas-Schuldenberater Lorenz Bertsch stellte gegenüber work klar:

Wenn wir einen Mindestlohn hätten, wären ganz viele sozialpolitische Probleme behoben.

Doch die rechte Mehrheit im Nationalrat tut genau das Gegenteil: Wenn es nach ihr geht, sollen die Löhne von Geringverdienenden gekürzt werden – kantonale Volksentscheide zu Mindestlöhnen hin oder her (work berichtete).


Nationalrat debattiert GesetzesänderungEndlich: Neustart statt lebenslanger Strafe

Wenn Menschen keine Chance haben, ihre Schulden je zurückzuzahlen, nützt dies niemandem. Für solche Fälle soll neu ein Sanierungskonkurs möglich werden. In der Herbstsession entscheidet der Nationalrat.

Einmal Schulden, immer Schulden: Das geltende Gesetz macht den meisten Menschen eine Entschuldung unmöglich. Wenn zum Beispiel der Lohn nur knapp zum Leben reicht, haben Betroffene keine Chance, ihre Schulden abzustottern. Sie bleiben für immer von vielen Bereichen des Lebens ausgeschlossen. Schulden gefährden zudem Beziehungen, Gesundheit, Arbeitsfähigkeit und das Wohl von Kindern.

Darüber hinaus verursachen Schulden hohe Kosten für die ganze Gesellschaft. Eine Schätzung im Auftrag des Bundes ergibt: Allein die entgangenen Steuereinnahmen und die Sozialhilfe an die Betroffenen belasten die Rechnung der Kantone mit 54 bis 200 Millionen Franken pro Jahr. Das alles nützt den Gläubigern nichts. Sie müssen Schulden von Menschen, die hoffnungslos verschuldet sind, ohnehin abschreiben. 

Diese Einsicht schlägt sich jetzt in der Politik nieder. In der kommenden Herbstsession wird der Nationalrat darüber beraten, ob ein Sanierungsverfahren für überschuldete Personen eingeführt werden soll. Diese müssten drei Jahre lang alles, was pfändbar ist, an die Gläubiger abgeben. Danach würden sie, unter strengen Bedingungen, von ihren verbleibenden Schulden befreit.

Frankreich, Deutschland und Österreich kennen bereits solche Verfahren. Laut dem Verband Schuldenberatung sind die Erfahrungen gut: Im Zug der Verfahren werden mehr Schulden zurückbezahlt, und mehr Betroffene finden wieder einen Job. Für die Fachstellen ist deshalb klar: «Jeder Mensch kann scheitern. Unsere Gesellschaft sollte Menschen nicht ewig für Fehler bestrafen. Wer ehrlich versucht, seine Schulden zu begleichen, verdient eine zweite Chance.» (che)

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